Die Aufhebung des Fluches des Kreuzes: Auf dem Weg zu einer neuen Beziehung zwischen Judentum und Christentum.
Dr. Andrew Wilson
Konferenz für jüdisch-christliche Versöhnung und Harmonie
Jerusalem, 18. Mai 2003


Ins Deutsche übertragen von Johannes Stampf und Heinz Krcek

Meine Damen und Herrn! Ich glaube, dass interreligiöse Versöhnung der Schlüssel zum Frieden in Jerusalem ist, weil die Religion im Zentrum dieses Konfliktes steht. In einer Gegend wie im Mittleren Osten, wo die Menschen einen sehr leidenschaftlichen Glauben besitzen und sogar bereit sind ihr Leben zu opfern, sind politische Lösungen zu schwach, um zu greifen. Zu lange schon wurden auf der Basis des Humanismus praktische Wege für das Zusammenleben versucht und dabei die theologischen Differenzen, die trennend zwischen den Gläubigen stehen, ausgeklammert. Sogar bei interreligiösen  Treffen wurden ernsthafte Diskussionen über Gott und Theologie vermieden in der Meinung, dies sei ohnehin ein fruchtloses Unterfangen. Nur ein Im Streben nach einem bloßen Nebeneinander wagten wir nicht zu glauben, dass unsere Religionen eine Einheit der Herzen erreichen könnten.

Echter und dauerhafter Friede jedoch erfordert, dass über den Säkularismus hinaus eine Gesellschaft errichtet wird, in der Menschen verschiedener Religionen miteinander über Gott und göttliche Werte reden. Das Hauptaugenmerk meines Lebenswerkes bestand im Erforschen von universell gültigen Werten. Ich verfasste das Buch „World Scripture: A Comparative Anthology of Sacred Texts (Paragon House, 1991) und versuchte darin Werte herauszuarbeiten, die vielen Religionen gemeinsam sind. Eine Untersuchung der Heiligen Schriften in einer Zuordnung zu über 150 Themen ergab eine Übereinstimmung von über 80%. Christliche, islamische und auch jüdische, buddhistische, hinduistische und taoistische Ethik und deren Einstellung zu den Themen Leben, Tod und ultimative Realität sind einander auffallend ähnlich. Das überrascht jene nicht, die an den einen Gott glauben, der Seine Aspekte durch alle wahren Religionen offenbart.

Die Erkenntnis der Universalität religiöser und moralischer Werte kann sicherlich helfen die Menschheitsfamilie zusammenzuführen. Dennoch bleibt hier die Tatsache, dass Religionen Glaubenszeichen und Verehrungsobjekte anderer Religionen herabwürdigen und ablehnen. Christen lehnen den erlösenden Wert des Gesetzes ab. Juden lehnen Jesus ab. Deren zentrale Erzählungen beinhalten widerstreitende Geschichten und konkurrierende Weltsichten. Während wir auch Gemeinsamkeiten feststellen können - ein guter erster Schritt – sind wir daher noch nicht am Kern des Problems angelangt.

Sowohl der Judaismus als auch das Christentum und der Islam wurden in den Feuern des Konflikts und der Ablehnung jeweils vorherrschender Religionen geboren. Die historischen Konflikte, die bei deren Geburt herrschten, setzten sich als permanente religiöse Haltung anderen Religionen gegenüber als Ausdruck der Ungläubigkeit fort. Theologische Verschiedenheiten wurden hervorgehoben und zu Glaubensartikeln festgeschrieben. Aber dennoch haben wir als Juden, Christen oder Muslime den EINEN Gott als unseren Vater.  Wie andere Eltern auch, würde Gott  diese Probleme am liebsten gelöst sehen.

Aus diesem Anlass sitzen wir Christen und Juden hier wie zwei Familien bei der Hochzeitszeremonie ihrer Kinder. Wir möchten mit unseren neuen Schwagerfamilien gut auskommen und so machen wir einander Geschenke und halten uns an gute Umgangsformen. Dahinter gibt es jedoch unausgesprochene Gedanken und unerfreuliche Erinnerungen. Wir erinnern uns, dass noch vor wenigen Generationen unsere Familien nicht miteinander gesprochen haben, so tief waren der Schmerz und das Leid. Heute möchte ich uns alle einladen, einen gewagten Schritt zu tun und in aller Fairness einen Blick auf den Kern der jüdisch-christlichen Trennung zu werfen. „Komm nun und lass uns gemeinsam ….“ (Is 1,18) und vielleicht schaffen wir den Durchbruch zu einer neuen Ebene der Versöhnung und des gegenseitigen Respekts.

Ich suche nicht eine Bekehrung, weder von Juden noch von Christen. Ich suche im Gegenteil den Weg, auf dem Juden und Christen den Glauben des anderen echt respektieren, daran hat es bis heute gemangelt. Im Hinblick auf die sensible Natur dieses Themas bitte ich Sie, mir eventuelle Missverständnisse in meinen Anmerkungen zu vergeben.

Die Trennung von Juden und Christen

Christen beteuern immer wieder, dass ihr Gott der gleiche Gott ist wie der Gott der Juden – der Gott Abrahams. Aber sie haben ein anderes Gottesverständnis,  insbesondere wie Gott in Bezug auf Jesus von Nazareth gehandelt hat. Aus christlicher Sicht bestand der Zweck der Vorbereitung des auserwählten jüdischen Volkes darin, dass sie den Messias annehmen sollten. Jesus von Nazareth kam als dieser Messias, aber die Juden haben ihn nicht angenommen. Als Resultat wurde das Christentum als neue Religion geboren, um das weiterzuführen, was das Judentum unerfüllt ließ.

Christen betrachten die jüdische Doktrin als mangelhaft, da sie die Wahrheit verneinen, dass Gott sich durch die Inkarnation Jesu Christi der Menschheit zugänglicher gemacht hat. Während sie daher – und ich möchte hier Klartext sprechen – im höflichen Umgang das Judentum als große Religion preisen, blicken viele Christen in ihren Herzen auf die Juden herab, wie es auch Billy Graham tat, als er bestätigter Weise in einem unbeobachteten Gesprächsmoment mit Präsident Nixon abschätzige Bemerkungen über sie machte. Stellen aus dem Neuen Testament sprechen deutlich vom sturen Unglauben der Juden. Darüber hinaus wird ein Volk, das so hartnäckig an der Sünde hängt Jesus Christus abgewiesen zu haben sicherlich geneigt sein, auch in anderen Dingen ebenso genauso hartnäckig zu sein; so wird ihnen manchmal Gier und Käuflichkeit unterstellt.

Andererseits betrachten die Juden ihren religiösen Weg der Thora als vollkommen adäquat. Sie fühlen sich von der christlichen Fehlinterpretation ihrer Religion verletzt, die vereinzelt im Neuen Testament gefunden werden kann. Sie sehen keinerlei Überlegenheit in der Ethik Jesu im Vergleich mit den besten ihrer Rabbis. Juden glauben nicht, dass Jesus irgendein Messias gewesen sein könnte. Schließlich hat Jesus auch nicht das verwirklicht, was ein Messias hätte verwirklichen sollen: Israel aus der römischen Unterdrückung zu befreien, die Juden aus dem Exil ins Heilige Land zurückzuführen und den Weltfrieden zu errichten. Nach Jesus war die Welt noch immer voll von Gewalt und Unterdrückung, und für die Juden wurde die Lage noch viel schlimmer.

Fragen Sie, was die meisten Juden über Jesus denken und Sie werden auf eine tiefe Bitterkeit stoßen. Jesus war der Ausgangspunkt der schmerzvollen Geschichte christlichen Antisemitismus. Es gab Jahrhunderte christlicher Gewalt gegen die Juden: Überfälle, Plünderungen, Gewaltanwendungen verschiedenster Art, Gefangenschaften in Ghettos, gewaltsame Kindesentführungen um sie christlich zu taufen, Ausschluss aus vielen Nationen und schließlich der Holocaust. All das hat die Herzen der Juden daran gehindert, das Gute in Jesus Christus sehen zu können. Christlicher Antisemitismus und das daraus entstandene Ressentiment der Juden gegen die Christen bleibt ein geistiges Gewicht, das erstarrte Leid von Millionen von Menschen, die in dieser Verfolgung lebten und starben. Das ist ein sich fortsetzender Hindernisfaktor in den jüdisch-christlichen Beziehungen. Christen fragen die Juden: “Ist es wirklich notwendig Jesus abzulehnen? Seht doch welch wunderbarer Mann Jesus war.“ Juden können nicht einmal mit der Beantwortung dieser Frage beginnen ohne in Rage zu geraten.” Wie könnt ihr Christen es wagen, uns aufzurufen an Jesus zu glauben! Ihr könnt es nicht lassen uns bekehren zu wollen! Lasst uns doch endlich in Ruhe!“ Der 2000-jährige, historische Konflikt zwischen Judentum und Christentum machte die Ablehnung Jesu zu einem essenziellen Teil der religiösen Identität des Judentums.

Heute bereuen die Christen für ihren Antisemitismus. Sie sehen es als ihr eigenes Versagen, die Lehren Jesu, der Vergebung und Liebe predigte, nicht gut genug gelebt zu haben. Sie erkennen es als ihr Problem, als fürchterliche Sünde und einen Schandfleck in ihrer christlichen Geschichte.

Wie steht es mit der Zurückweisung Jesu seitens der Juden? Ist das ein Problem für das Judentum? 2000 Jahre lang hat der Judaismus die Reserviertheit dem christlichen Glauben gegenüber aufrechterhalten. Aber ob es Ihnen angenehm ist oder nicht, Christen und Juden sind Religionsbrüder. Sie sind beide Kinder Abrahams. Und wenn Brüder miteinander auszukommen versuchen, versuchen sie auch einander zu verstehen und sie versuchen auch die Sichtweise des anderen mit einzubeziehen. Christen können nicht anders als die jüdische Unnahbarkeit als Arroganz, Sturheit, Halsstarrigkeit und andere Eigenschaften zu bezeichnen, wie sie in der Bibel genannt werden. Wie können Brüder untereinander an der Unnahbarkeit festhalten, ohne damit neue Missverständnisse zu erzeugen?

Reue

Ein Mehr an Zusammenarbeit unter den Religionen ist noch kein sicheres Fundament für Frieden. Friede muss auf der Basis der Wiederherstellung der Familie Abrahams stehen, mit echter Liebe und Respekt voreinander. Hier ist für Fehler in der Vergangenheit noch viel Reue nötig. Wir möchten die Qualen der Vergangenheit überwinden und ein aus dem Herzen kommendes emotionales Band der Liebe festigen, denn im Reich Gottes sind alle Religionen untereinander Geschwister in Gottes Familie.

Reue sollte ein beiderseitiger Prozess sein, aber in der Praxis ist dieses Verhältnis zwischen Juden und Christen asymmetrisch. Juden fühlen sich mehr betrogen und unterdrückt als Christen. Es ist ähnlich wie in der Beziehung zwischen Schwarzen und Weißen. Die Menschen sprechen über den Rassismus der Schwarzen anders als über den Rassismus der Weißen; Rassismus kommt, von der Definition her gesehen, von den Mächtigen. Die betrogene Gruppe muss den Trost seitens der Mächtigen in Form eines Schadenersatzes spüren, bevor etwas in Bewegung kommen kann. Umgekehrt besitzt die Seite, die sich des Segens und der Liebe Gottes sicherer fühlt, die emotionalen Ressourcen um die Versöhnung einzuleiten.

Das Christentum hat damit begonnen, für seine anti-semitische Vergangenheit zu bereuen. Diese Reue spielt sich auf zwei Ebenen ab. Erstens die Reue über historische Fehler wie beispielsweise den Holocaust. Die zweite Ebene ist die Selbstreflexion über die eigene Doktrin, um herauszufinden, welche Lehren, wenn es solche sind, die Christen dazu führten, solche historische Fehler zu begehen. Heute durchdringt diese Selbstreflexion sogar das Neue Testament selbst.

Der Schatten des Kreuzes

Bei genauerer Betrachtung ist die Kreuzigung Jesu selbst die zentralste neutestamentliche Doktrin, die den Makel einer feindlichen Einstellung den Juden gegenüber in sich trägt. In diesem Zusammenhang bietet der katholische Autor James Carroll in seinem Bestseller-Buch „Constantine’s Sword“ „Konstantins Schwert“ (Houghton-Mifflin, 2001) eine sehr ernst zu nehmende Kritik an der christlichen Kreuzesdoktrin an. Er beginnt mit der Beschreibung eines ca. vier Meter hohen Kreuzes, das von Nonnen feierlich in Auschwitz aufgestellt wird und das viele Juden als Beleidigung empfanden. Was den Christen ein Symbol für den Triumph Christi über den Tod, ist für Juden die Entweihung eines Friedhofs für über eine Million getöteter Juden. Indem Carroll hier herausarbeitet, wie das Hervorheben der Kreuzigung Jesu einer der Hauptpunkte für den Anti-Semitismus ist, ruft er den Christen zu, von einer Überbetonung des Kreuzes Abstand zu nehmen,  aus folgenden Gründen:
* Das Kreuz trennt Christen und Juden, weil es eine Schattenseite besitzt. Konzentriert sich der christliche Glaube zu sehr auf den Tod Jesu am Kreuz, hält er damit immer den Finger der Verdammung gegen jene hoch, die Jesus getötet haben. Christliche Banden fanden es immer als gute Gelegenheit um die Osterzeit in jüdischen Vierteln zu randalieren.
*Das Kreuz ist ein Symbol für Gericht – jemand steht entweder auf der Seite der Christen, die durch das Blut Christi am Kreuz freigekauft sind, oder er steht auf der Seite der Juden und Römer, die Jesus am Kreuz verlachten und verhöhnten. Auf diese Weise symbolisiert es den Konflikt, von dem aus das Christentum sich über andere stellte.

*Das Kreuz ist ein Symbol für die Vorherrschaft. Unter Kaiser Konstantin war es ein Symbol für den triumphalen Sieg Christi über die Heiden. Später schmückte das Kreuz die Schilde der Kreuzfahrer und es wurde zu einem von Muslimen gehassten Symbol christlicher Macht.
 
*Das Kreuz wurde erst in den Tagen Konstantins zum Hauptsymbol des Christentums erhoben. Die frühen Christen sahen es als Instrument der Exekution Jesu und verwendeten es daher nicht. Sie waren mehr interessiert an der Person Jesu, an seinem Leben und an seinen Lehren. In den Katakomben war der Fisch das Symbol für Jesus und das “chi-rho.”
* Die Lehre vom Erlösungswerk Jesu Christi (Soteriologie) hat es nicht nötig, sich so sehr auf das Kreuz zu stützen. Das Leben Jesu selbst kann als erlösend betrachtet werden. Jesu Liebe und Vergebung den Feinden gegenüber kann als erlösend betrachtet werden. Die Auferstehung kann als Ausgangspunkt der Erlösung betont werden.

Ich würde mit Carroll übereinstimmen und die Christen fragen, ob ihnen die Betonung des Kreuzes als zentrales Glaubenselement (in der Fortführung des Göttlichen Erlösungswerks) so dienlich ist. Niemand kann verneinen, dass das Leiden und die Kreuzigung Jesu den Höhepunkt des Erlösungsdramas darstellt. Der Konflikt ist zweifellos dramatisch, und dennoch hinterlässt er den dauerhaften Eindruck einer gespaltenen Menschheit, die nicht das Ziel Gottes ist. In Gott gibt es den Konflikt nicht. Aber immer, wenn die Christen an Jesus am Kreuz erinnern, können sie nicht anders, als auch die Juden und die Römer zu sehen, die ihn dorthin gebracht haben. Durch das Hervorheben des Aktes der Zurückweisung und Kreuzigung Jesu ließ das Kreuz eine hohe Mauer zwischen jenen, die Jesus akzeptieren und jenen, die ihn nicht akzeptieren, entstehen. Während es wunderbar ist, sich durch das Kreuz erlöst zu wissen, ist die Lage für jene, die in dessen Schatten verdammt werden, eine ganz andere.

Jesus kam für alle, besonders für die verlorenen Schafe. Am Kreuz vergab er den Feinden, die ihn kreuzigten. Mit der Auferstehung aus dem Grab sagte er „Ja“ und übertraf damit all jene, die zum Willen Gottes „Nein“ sagen. Er besuchte seine mutlos gewordenen Jünger und gab Petrus, der ihn zuvor verleugnet hatte, eine zweite Chance. Ich glaube, dass es Jesus, der kam, um die Mauern zwischen den Menschen und Völkern niederzureißen, sehr schmerzt, mitansehen zu müssen, wie sich durch seinen Erlösungstod neue Mauern religiöser Intoleranz hoch aufrichteten – besonders die Mauern zwischen Christen und Juden, seinem eigenen Fleisch und Blut.

Christen beginnen sich zu fragen: War es wirklich Gottes Absicht, dass Jesus ans Kreuz gehängt und getötet wird? Was wäre geschehen, hätten die Juden vor 2000 Jahren an Jesus geglaubt, hätten sie dann erlaubt, dass er gekreuzigt wird? Sicherlich hat Gott Israel nicht mit akribischer Genauigkeit 2000 Jahre lang vorbereitet, nur damit es den Messias, wenn er schließlich kommt, ablehnt. Jesus rief die Menschen auf, ihm zu glauben. Hätten die Menschen geglaubt, so hätten sie ihn als Juden geehrt. Jesu Nachfolger hätten keine neue Religion mit dem Namen Christentum, errichten müssen.

Wie Reverend Moon lehrt, beabsichtigte Jesus niemals durch das Kreuz zu sterben. Er beabsichtigte vielmehr auf dem Fundament der Akzeptanz und mit der Unterstützung der Menschen, zu denen er gesandt worden war, das Reich Gottes zu errichten. Das Kreuz hingegen machte einen Strich durch Gottes Hoffnungen und machte Jesu Wunsch zunichte, das Reich Gottes während seines Erdenlebens errichten zu können. Erst als die Umstände keine andere Möglichkeit mehr offen ließen, entschloss sich Jesus, den Weg des Kreuzes zu gehen. Die Erlösung, die das Kreuz brachte, war das Beste, was Jesus aus dieser schlimmen Situation noch machen konnte.

Das Leben Jesu war ein Ausdruck von Gottes erlösender und versöhnlicher Liebe. Die Liebe Jesu war so groß und so wahrhaftig, dass er bereit war, sein Leben für ein Volk zu opfern, das ihn nicht akzeptierte, das nicht erkannte, wer er war und wozu er gekommen war. Auf seinem letzten Weg nach Jerusalem klagte er daher: „Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt. Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen verborgen.“ (Lk 19,42) Jesu größter Wunsch war es, Gottes Willen – eine weltweite Nation Gottes - zu erfüllen. Und er wollte das mit friedlichen Mitteln tun. Daher ruft Reverend Moon, indem er die Christen dazu bewegt, die Kreuze abzunehmen, die Kirchen auf, ihr Hauptaugenmerk auf den ursprünglichen Sendungszweck Jesu, nämlich den Frieden zu verwirklichen, den er brachte, zu richten.

Die christlichen Geistlichen, die heute hier anwesend sind, haben die Kreuze von ihren Kirchen heruntergenommen. Besonders die afro-amerikanischen Geistlichen beginnen die Ungerechtigkeit zu erkennen, die Jesus widerfahren ist. Ihnen ist die Unterdrückung ihres Volkes unter der Peitsche der Sklavenaufseher bekannt. Für sie ist die herkömmliche Verherrlichung des Kreuzes ein hohler Klang. Sie befinden sich aber auch in Solidarität mit den Juden und mit deren Leiden. Keines der Leiden beider kann man rechtfertigen, keines der beiden war Gottes Wunsch. Diese Geistlichen lernen mehr über das wahre Herz Jesu, der kam um Frieden zu bringen, nicht Trennung. Heute, in einer Zeit, in der religiöse Konflikte das Überleben der Menschheit gefährden, treten sie als Christen auf, die Jesu Beispiel „die Feinde zu lieben“ folgen, vor allem die Juden, die das Fleisch und das Blut des Herrn sind.

Das ist kein billiger Kompromiss und keine kosmetische Verwandlung. Es ist nicht ein Akt, den Judaismus zu besänftigen. Vielmehr ist das Herunternehmen der Kreuze ein aufleuchtender Hinweis auf Christus. Es ist wie die Wegnahme eines Schleiers, der den Geist Gottes verdunkelt hat. (2.Kor 3,16) Durch die Kreuzabnahme entdeckten diese Geistlichen eine tiefere Beziehung zum lebenden Christus als jene, die sie hatten, als sie auf den Gekreuzigten fixiert waren. Nun konzentrieren sie ihren Glauben auf den göttlichen Willen und auf Gottes ursprünglichen Sendungszweck des Messias, der es ist, die Menschheitsfamilie mit Gott zu versöhnen. Dies ist der Kern der christlichen Botschaft: Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab (Joh. 3,16) Gott liebt nicht nur die Christen; Er sorgt sich um die Welt - um alle Menschen. Diese Botschaft ruft uns von den blutgetränkten Steinen des Heiligen Landes in ergreifender Weise entgegen, und jene, die Ohren haben, können sie hören.
 
Jesus, der jüdische Messias

Ich erwähnte bereits, dass gemäß dem jüdischen Messiasverständnis der Messias jener ist, der das Reich Gottes als sozio-politische Realität auf Erden errichtet. Jesus am Kreuz, der der unerlösten Welt die geistige Erlösung bringt, erfüllte nicht die jüdischen Erwartungen an einen Messias. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Juden den Messiasanspruch der Christen nicht ernst nehmen. Gott lehrte Israel einen Messias zu erwarten, der das Reich Gottes errichten wird; daher können gläubige Juden nur einen glorreichen Messias als solchen erkennen. Der Messias sollte nicht am Kreuz sterben und die Welt in einem Chaos hinterlassen; und daher nannte Paulus das Kreuz auch ein Ärgernis für die Juden. („Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit“ 1.Kor 1, 23)

Des Weiteren erwuchs das Christentum nach Ostern aus dem Schatten des Kreuzes. Die Entwicklung der christlichen Lehren fand nicht im Umfeld der Juden, sondern im heidnischen Rom statt, wo die Menschen nach einer Beziehung zu Gott – also nach Erlösung – suchten. (Juden hingegen hatten bereits eine Gottesbeziehung durch ihren Bund mit Gott.) Der christliche Glaube nahm die sehr un-jüdische Form einer Erlösung durch das Blut am Kreuz, die Göttlichkeit Jesu und die Dreifaltigkeit an und entwickelte sich zu einer separaten Religion. Die Buchseiten des Neuen Testaments sind gefüllt mit Missinterpretationen des Judaismus, als die Apostel ihren eigenen Glauben zu verbreiten und ihn vom Judaismus abzugrenzen suchten. Das Christentum erblühte in einer fremden Welt und warf die meisten ihrer jüdischen Wurzeln über Bord. Es hob sich durch das Kreuz vom Judentum ab und entwickelte sich als unjüdische Religion.

Wenn wir jedoch die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass es nicht die ursprüngliche Mission Jesu war, am Kreuz zu sterben, dann wird eine beachtenswerte Annäherung möglich. Vielleicht kam Jesus, um alle messianischen Versprechen, die Gott den Juden gegeben hat, zu erfüllen, aber nur auf der Grundlage, dass das Volk ihn annahm und mit ihm zusammenarbeitete. Ein Blick auf das Leben Moses in seinem Bemühen das Volk durch die Wüste ins gelobte Land zu führen, bestätigt sicherlich die Absicht, dass ein von Gott ernannter Befreier die Unterstützung seitens der Menschen oder des Volkes benötigt.

Einige Juden fühlen sich emotional sicher, in Erwägung zu ziehen, dass Jesus als Messias zu den Juden kam. Ich bin selbst Jude und ich weiß, dass der innere Grund für die Wut hinter dem jüdischen „Nein“ zu Jesus im tiefen Ressentiment des Jahrhunderte andauernden Antisemitismus seitens des Christentums liegt. Aber heute, wo die Reue der Christen diesen Stachel des Antisemitismus lindert, mag es für die Juden möglich sein, das Leben des größten Juden, der je gelebt hat, neu zu überdenken. Maimonides erkannte Jesus von Nazareth als den größten Sohn des Judentums, den großen Lehrer, der der Welt ein großes Licht und eine große Zivilisation brachte und der eine große spirituelle Wirkung auf die Welt hatte. Nicht viele Juden würden das heute sagen, aber ich glaube, dass das jüdische Establishment dorthin kommen sollte.

Das jüdische “Nein” zu Jesus ist die Kehrseite des christlichen Kreuzes. Es ist die Aufrechterhaltung eines vulgären menschlichen Konflikts aus dem 1. Jahrhundert, der auch auf Personen mit dubiosen Verdiensten zurückgeht. Jene, die Jesus verdammten, waren nicht die großen Leuchten des Judentums, nicht Hillel oder Akiba, sondern zweifelhafte Vaterlandsverräter wie der Hohepriester Kaifas, der bedacht war den Frieden unter der Herrschaft Roms zu erhalten und der sagte: „Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ (Joh. 11,50) Aber deren unbedachte Urteile verhärteten und festigten sich als bleibende religiöse Einstellung. Heute erkennen die meisten Christen, dass es illegitim ist, alle Juden für Aktionen einiger selbst-zentrierter und korrupter jüdischer Führer vor 2000 Jahren verantwortlich zu machen, die Jesus verdammten und ihn den Römern auslieferten. In gleicher Weise müssen sich Juden heute nicht gebunden fühlen, diesen damaligen Führern in ihrer Beurteilung zu folgen.

Harmonie unter den abrahamischen Religionen, die alle den einen Gott verehren, erfordert, dass jede unter ihnen die zentralen Offenbarungen der jeweils anderen in gutem Glauben sieht. Gott, der die Quelle aller Religion ist, gibt keine widersprüchlichen Botschaften. Daher glaube ich im Interesse des Friedens, dass die Juden einer Betrachtung, dass Gott Jesus von Nazareth erwählt hat eine messianische Mission zu erfüllen, offen gegenüberstehen sollten. Dieser Schritt wurde im interreligiösen Dialog noch nicht getan. Heute rufe ich die jüdische Gesellschaft auf, diesen Schritt zu machen.

Der messianische Anspruch von Jesus von Nazareth bedeutet für einen Juden nicht, zum Christentum zu konvertieren. Schließlich betrachten Muslime auf ihre Weise Jesus auch als einen „Messias“. Dieser Vorschlag geht vielmehr dahin, dass wir jede Religion mit ihrem ihr eigenen Messiasverständnis arbeiten lassen sollen. Die hier anwesenden Geistlichen entkoppeln ihr Verständnis der messianischen Mission Jesu von den besonderen Umständen seines Kreuzestodes. Sie nähern sich Jesus aus dem Blickfeld seines Lebens und seiner Lehren, wie sie in den Evangelien aufgezeichnet sind. In gleicher Weise ist es für Juden angemessen, Jesus von der Sicht der Quellen der jüdischen Tradition aus zu betrachten. Eine ganze Anzahl jüdischer Gelehrter verkündet, dass Juden beginnen, „Rabbi Jesus“ als Lehrer mit einem profunden Verständnis der Thora und einen Praktizierer des Tikkun anzuerkennen.

Die Aufhebung des Fluches des Kreuzes
Als Jesus vor 2000 Jahren am Kalvarienberg ans Kreuz genagelt wurde, festigten diese Nägel auch eine historische Trennwand zwischen Judentum und Christentum. Der christliche Glaube an den gekreuzigten Jesus wirkte befremdend auf das Judentum. Als aber das Christentum gleichzeitig die Bedeutung des Messias im Licht des Kreuzes neu definierte, schwärzte es damit die messianischen Hoffnungen der Juden als weltlich und materialistisch an. Um diese Wand abreißen zu können, muss zuerst das Kreuz abgenommen werden. Bis zum Zeitpunkt seiner Abnahme wird das Kreuz als Fluch (Gal 3,13) und als unüberwindbares Hindernis für die Lösung des Konfliktes zwischen den beiden Bruderreligionen bestehen bleiben.

Judentum und Christentum müssen jeweils für sich einen Weg gehen, um über das Kreuz hinaus zu gelangen, dorthin, wo sie einander umarmen können, wo sie sich in der Tiefe ihrer Herzen versöhnen können. Heute beginnen Christen, die das Kreuz abgenommen haben, ein neues Bild von Jesu Leben auf Erden zu sehen. Er ist ein Jude. Können Juden ihn auch als einen der ihrigen anerkennen?

Kann eine Zeit kommen, in der Juden Jesus als rechtschaffenen Juden sehen, als Lehrer und Rabbi, dessen Worte, wie sie in der Bergpredigt aufgezeichnet sind, mit den besten Lehren der Weisen übereinstimmen?

Kann eine Zeit kommen, in der Juden die Kreuzigung Jesu als ein tragisches Ereignis in der Geschichte ihres Volkes betrachten können, ähnlich der Verfolgung der Propheten und deren Tod durch unrechtschaffene Könige?

Kann eine Zeit kommen, in der Juden und Christen den Tod Jesu mit Trauer in ihren Herzen sehen können, in der sie den tragischen Tod als Verhinderung von Gottes Hoffnungen und als Beginn von zwei Jahrtausenden schmerzhafter Trennungen und des Misstrauens unter Gottes Kindern sehen können?
Kann eine Zeit kommen, in der Juden und Christen gemeinsam den Kreuzestod Jesu betrauern, eine Zeit, in der sie beweinen, dass ein Mann, gesandt als Bote Gottes, seine messianische Mission, nämlich der Errichtung des Himmelreiches in seinen Tagen, nicht vollenden konnte? Können sie diesen Momenten mit Reue begegnen und sich die Frage stellen, ob sie die Weisheit gehabt hätten ihn zu erkennen, wäre er in ihrer Mitte erschienen?

Wenn dieser Tag der Reue und der Versöhnung gekommen ist, kann der historische Riss zwischen Judentum und Christentum geheilt und der Fluch des Kreuzes aufgehoben werden.