Die Geschichte des Offenbarungsverständnisses zeigt, daß sich der Begriff ,,Offenbarung" in Bedeutung, Form und Definition allmählich verändert hat.
Im frühen Christentum bezog sich das Wort „Offenbarung“ auf die gesamte göttliche Vorsehung sowie auf das Bewußtsein um die göttliche Mitwirkung in den menschlichen Angelegenheiten. Es bezog sich nicht auf die Bibel selbst. In neuerer Zeit wurde der Begriff Offenbarung in viererlei Weise definiert:
1. Eifrige beschreiben Offenbarung als Lehrsätze, wie z.B. den über die Dreifaltigkeit, oder die Menschwerdung Gottes, oder als Schriftwahrheit. Diese Definition mag in einem gewissen Sinne richtig sein, sie bedarf aber noch weiterer Klärung.
2. Manchmal wird ,,Offenbarung“ mit Inspiration gleichgesetzt: Offenbarung ist das göttliche Licht, das aus dem Inneren leuchtet. In diesem Sinne sprechen wir über die Bibel als Offenbarung, weil sie uns erleuchtet. Doch diese rein inspirative Definition kann als zu subjektiv kritisiert werden, sofern man jede Inspiration zur Offenbarung erklärt.
3. Der evangelische Theologe Emil Brunner definiert Offenbarung als die dialogische Begegnung zwischen Mensch und Gott. Offenbarung ist personal, nicht sachlich. Sie hat ihren Ursprung in einer personalen Beziehung, einer Ich-Du-Beziehung. Sie handelt von Personen, nicht von Ideen. Brunner mag im Recht sein, die personale Natur Gottes und die personale Qualität der Offenbarung zu betonen. Gottes Offenbarung ist jedoch nicht immer auf die personale Ich-Du-Beziehung begrenzt. Sie kann manchmal ein Etwas sein: eine Idee.
4. Der biblische Theologe G. Ernest Wright und W. Pannenberg, ein Vertreter der Theologie der Hoffnung, führen aus, daß Gottes mächtiges Handeln in der Geschichte - etwa die Schöpfung, der Exodus, die Menschwerdung und Auferstehung Christi -selbst klare Offenbarungen seiner Natur und seiner Vorsehung liefert. So gesehen offenbart Gott sich nicht in Worten oder Ideen sondern in Taten, in geschichtlichen Erlösungsakten. In seinem Eifer, Gottes Offenbarung in Ereignissen anzuerkennen, verliert Pannenberg jedoch seine Offenbarungen in Worten und Ideen aus dem Auge.
Brunner unterscheidet sorgfältig zwischen Glaube und Vernunft. Die Offenbarung betrifft die Natur und die Bestimmung des Menschen selbst. Ihre Erkenntnisweise ist eher existentiell als theoretisch, weil es um das ursprüngliche Ziel und den letzten Inhalt menschlicher Existenz geht. Weder Wissenschaft noch Metaphysik geben uns solche Antwort. Sie rühren nicht ans Innerste unserer Realität als Person. Die Theologie enthüllt dagegen das Woher und Warum des Menschen. Die Gottesfrage ist zutiefst persönlich und erschreckend dringlich für einen jeden von uns. Wenn wir nicht das Zentrum unserer Existenz finden, steht der ganze Sinn unseres Lebens auf dem Spiel. (1) Brunner unterscheidet klar zwischen den Funktionen der Vernunft und der Offenbarung und besteht auf der absoluten Notwendigkeit der Gottesbegegnung.
L. Harold DeWolf von der Boston University kritisiert diese Herabsetzung der Vernunft im doktrinären Bereich.(2) Wir brauchen die Vernunft. und ihre Funktion in der Religion ist unentbehrlich. Die Vernunft dient der Offenbarung in vielfacher Weise: 1. Sie ist erforderlich, um die Offenbarung anzunehmen, denn diese kommt zu einem vernunftbegabten Geschöpf, das die Wahrheit der Offenbarung zu anderen Wahrheiten in Bezug setzen muß. 2. Vernunft ist notwendig, um zu entscheiden, daß die Autorität der angenommenen Offenbarung höher ist als andere Offenbarungsansprüche. (3). Vernunft ist gefordert, um die Offenbarung zu interpretieren und sie auf die wechselnden menschlichen Situationen anzuwenden. 4. Der Vernunft bedarf es, um Offenbarungen anderen zu übermitteln. Nur eine vernünftige Verteidigung kann die Zweifel oder Einwände gegen die Wahrheit einer Offenbarung überwinden. DeWolf hat Recht in bezug auf den Vernunftbedarf der Religion. Auf der anderen Seite setzt Brunner voraus, daß Offenbarung die ganze Person angeht, die in Kopf und Herz geeint ist, deren Vernunft natürlicherweise durch die Offenbarung erleuchtet ist.
In seinem Buch ,,Offenbarung als Geschichten bringt Pannenberg beachtenswerte Überlegungen.3 Nach ihm kommt Offenbarung nicht direkt als lehrhafte Heilswahrheit, sondern indirekt durch Wirken in der menschlichen Geschichte. Dies bedeutet, es neben der personalen Ich-Du-Beziehung eine kollektive geschichtliche Dimension der Offenbarung gibt. Gott inspirierte Abraham, gab Moses die Gebote, leitete Josua, krönte David, tröstete die Hebräer im Exil und ermutigte sie durch die Hoffnung auf ein messianisches Zeitalter. Offenbarung zeigt somit sowohl individuelle wie kollektive Aspekte von Gottes Erlösungsabsicht,
Pannenberg betont auch, daß die im Zuge der Vorsehung erfolgte Offenbarung nur am Ende der Geschichte voll verstanden werden kann. Alle vergangene Offenbarung und alle gegenwärtigen Zeichen des göttlichen Handelns sollten im Licht der eschatologischen Vollendung der Geschichte betrachtet werden. Sowohl die mosaische Thora als auch die Sendung Jesu deuten auf das kommende messianische Zeitalter. Gottes volle Offenbarung erwartet uns in der Zukunft. Solch eine Auffassung mag jedoch von manchen in Frage gestellt werden.
Pannenberg besteht ferner darauf, daß Gott sich in der Gesamtheit der menschlichen Geschichte offenbart. Es gibt keine ,,heilige“ Geschichte (insbesondere die Israels und der christlichen Kirche), die höher stünde und getrennt wäre von der ,,weltlichen“ Geschichte. Alle Geschichte ist Offenbarung des Handelns Gottes. Diese Sicht erweitert die Reichweite der Offenbarung und betont die universelle Liebe und allumfassende Sorge Gottes. Doch stellt sich die Frage, ob Pannenberg mit der Annahme völlig im Recht ist, daß alle Glaubensbekenntnisse und alle Völker in gleicher Weise auf Gottes Willen geantwortet haben. Sicherlich hat Er besondere Gruppen für besondere Ziele zur Verwirklichung Seines gesamten Heilsplans genutzt.
In den letzten Jahrhunderten wurde die Offenbarungsdoktrin wegen der schwindenden Autorität der Heiligen Schriften problematisch: Diese Schriften seien Seite für Seite das unfehlbare Wort Gottes. Diese Vorstellung ist weithin angegriffen und im allgemeinen von den modernen Theologen fallengelassen worden.
In einem Lehrwerk systematischer Theologie betitelte DeWolf ein Kapitel: ,,Die Fehlbarkeit der Bibel.(4) Dort führt er sechs Punkte aus: 1. Es gibt offensichtliche Widersprüche in der Bibel. Zum Beispiel heißt es in Ex 37, 1-9, daß Bezalel die Bundeslade hergestellt habe: doch in Dtn 10, 1-5 beansprucht Moses, dies getan zu haben. Ähnlich gibt es zwei verschiedene Erzählungen von der Arche Noahs, die nur unbeholfen zusammengefügt wurden. 2. Aufgrund der bemerkenswerten Abweichungen in den biblischen Manuskripten, die wir heute besitzen, können wir nicht sicher wissen, wie die Originale lauteten. Die Bibel, die wir heute kennen, für unfehlbar halten, würde bedeuten, die frühe Kirche für unfehlbar zu erklären, die einst entschied, welche Bücher in den Schriftkanon aufgenommen und welche zurückgewiesen wurden. 3. Die Bibel enthält Widersprüche zu bekannten Wahrheiten, Behauptungen aufgrund widerlegter Mythologie oder falscher Wissenschaft. Die Bibel nimmt an, daß alle Krankheiten von dämonischer Besessenheit herrühren. Die Genesis berichtet, daß Schlangen keine Beine hätten, weil Satan diese Gestalt annahm, um Eva zu versuchen. Auch geht die Bibel davon aus, daß die Erde unbeweglich und das Universum geozentrisch sei. Es gibt viele Beispiele von Legendenbildung in der Bibel. Die Heldenerzählungen in den Richter-Büchern ähneln solchen der Griechen. Im Neuen Testament finden wir dasselbe Problem vor. Im Hinblick auf die Sterbeworte Jesu ist zu bemerken, wie die Worte vom Kreuz in den verschiedenen Evangelien verschieden entwickelt werden.(5) Die Bibel enthält moralisch unwürdige Passagen. Die Schriften bezeugen eine allmähliche Entwicklung der Ethik. Die moralischen Normen, wie sie sich in einigen Teilen widerspiegeln, stehen weit unter denen in anderen Teilen.(6). Jesus erkannte keine unfehlbare Autorität des Alten Testamentes an. Wie die Bergpredigt zeigt. wies er ,,ohne Zögern und wiederholt“ manche alttestamentlichen Lehren zurück.
Nach DeWolf wird aus all dem offensichtlich, daß wir nicht an die Verbalinspiration oder die unfehlbare Autorität der Bibel als Führer in Glaubens- und Sittenangelegenheiten glauben können. Alles, was wir aufrichtig sagen können, ist dies, daß die Heiligen Schliffen als Gesamtheit inspiriert sind, weil einige Passagen literarische Meisterstücke, einige Teile geistig erhebend und manche Gedanken zutiefst wahr sind.
Daher hat dieses Buch einen einzigartigen Einfluß auf die Menschheit ausgeübt. Der höchste Beweis, daß die Bibel inspiriert ist, ist die Tatsache, daß sie die Menschen veranlaßt hat, Gott zu suchen und zu finden.
Das Mysterium Gottes ist unendlich, doch Gott enthüllt sich selbst durch die Offenbarung, die für sich bereits ein unergründliches Geheimnis darstellt. Daher sollte jeder ernsthafte Sucher nach Wahrheit und nach dem Willen Gottes stets demütig und offen sein.
Sollten Christen nach einer neuen Offenbarung, die über die Bibel hinausgeht Ausschau halten? Hat Gott sich hier endgültig offenbart? Oder ist für unsere gegenwärtige Situation eine besondere göttliche Botschaft vonnöten? Solche Fragen wurden von früheren Christen selten gestellt, da sie mit der althergebrachten biblischen Offenbarung zufrieden waren. Wenn es zu irgendwelchen neuen Offenbarungserfahrungen von Gottes Gegenwart und Absicht kam, so wurden sie im Rahmen der traditionellen Religion interpretiert. Die unmittelbaren Begegnungen mit dem Übernatürlichen, wie sie von Franz von Assisi, Ignatius von Loyola, Blaise Pascal und Bernadette von Leurdes gemacht wurden, wurden in die ideologische Struktur eingepaßt. Dennoch wurden Offenbarungsansprüche in einigen Fällen von der Großkirche zurückgewiesen, was zur Bildung von neuen Gruppierungen herausforderte. So geschah es angesichts der Offenbarungen von George Fox, Emmanuel Swedenborg, Joseph Smith, Mary Baker Eddy und Helena Blavatsky. Heute bringen viele Christen ein größeres Verständnis gegenüber diesen sogenannten schismatischen Sekten auf, indem sie in diesen Sekten eine notwendige Besteilgung der vernachlässigten Aspekte unseres Gottesglaubens sehen. Im allgemeinen hat sich die Katholische Kirche gegenüber diesen Offenbarungen offener erwiesen als die protestantische, vielleicht weil die Reformation auf dem Selbstgenügen der biblischen Offenbarung bestand.
Die heutige Situation hat sich radikal verändert. Die organisierte Christenheit ist weniger streng strukturiert, so daß es schwierig wäre, jene zu unterdrücken, die beanspruchen, eine neue Botschaft von Gott empfangen zu haben. Andererseits sucht eine grosse Anzahl Geistlicher überzeugende, zeitgemäße Zeugnisse von Gottes Gegenwart und Macht. Ernsthafte Gemüter beten um eine Botschaft aus dem Jenseits, die der gegenwärtigen menschlichen Lage angemessen ist.
Die Bibel nimmt für sich nicht in Anspruch, die letzte Offenbarung zu sein, obwohl viele Theologen gedacht haben, daß sie es tut. Um zu verstehen, was die Schriften wirklich lehren, sollten die Christen zuerst das Alte Testament betrachten. Traditionell hielten viele Jüdische Rabbis die mosaische Thora für Gottes vollständige und immer gültige Offenbarung an den Menschen. Deshalb zog Jesus die Feindschaft von jüdischen Rabbis und Thora-treuen Juden auf sich, als er sich weigerte, einigen mosaischen Geboten zu gehorchen, und darauf bestand, andere zu ändern. Die spätere christliche Gemeinschaft ging beim Aufheben wichtiger Teile des geoffenbarten Textes noch weiter: solche, die z.B. die jüdischen Feiertage und die besonderen Ernährungsvorschriften betreffen.
Darüberhinaus war, wenn die moderne alttestamentliche Wissenschaft Recht hat, die Thora nicht einfach das, was Moses am Berg Sinai von Gott gelernt hat. Diesem Kern offenbarter göttlicher Gebote wurden über mehrere Jahrhunderte hinweg zahlreiche Ergänzungen hinzugefügt. Das Buch Deuteronomium wurde viel später zu einer Einheit verbunden und Mose zugeschrieben. Wahrscheinlich wurde es aber nicht vor der Zeit der Reform unter König Josia verfasst. Was die Thora in ihrer jetzigen Form angeht, so wurde sie vermutlich während des babylonischen Exils zusammengestellt und von Esra zum offiziellen Judaismus erhoben.5
Es findet sich in der Thora auch eine wichtige Passage, die dem Jüdischen Glauben eine eher kontinuierliche statt einer abgeschlossenen Offenbarung zuordnet. In Dtn 18,15 sagt Moses: ,,Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte erstehen lassen, und du sollst auf ihn hören." Für orthodoxe Juden ist es wichtig, daß die Thora selbst das Kommen eines dem Moses gleichgestellten Propheten vorhersagt. Wenn wir aber die wissenschaftliche Anschauung akzeptieren, daß das Deuteronomium lange nach Mose Tod geschrieben wurde, so müssen wir schließen, daß der offizielle Judaismus die Möglichkeit anerkannte, spätere Propheten könnten Offenbarungen empfangen.
Das Neue Testament hat seine endgültige Gestalt nicht vor dem Jahrhundert erhalten. Jesus hat seinen Schülern nicht selbst geschriebenen Neuen Bund gegeben, um den Alten Bund zu ergänzen. Nach wissenschaftlichem Konsens wurde keines der neutestamentlichen Bücher von einem der ursprünglichen Jünger Jesu geschrieben. Dies bedeutet, daß die frühen Christen über eine beträchtliche Zeitspanne hinweg kein heiliges Schrifttum hatten, abgesehen von den hebräischen Schriften.6 Allem Anschein nach haben sie die jüdische, niedergeschriebene Offenbarung vor allem um zu beweisen, daß Jesus der Messias ist. Wenn es um direkte Führung durch Gott ging, so verließen sie sich auf örtliche Prediger und inspirierte Äußerungen von christlichen „Propheten“. Über letztere haben wir sehr wenige Informationen.
Im ersten Jahrhundert nach Christus lehrten einige Rabbiner, das mosaische Gesetz werde beim Anbruch des messianischen Zeitalters ersetzt. Das Matthausevangelium betont deshalb, daß Jesus mit einem neuen Gesetz auftrat, wobei er das alte außer Kraft setzte. Die Lehren Jesu sind in fünf große Teile gegliedert, die mit fünf Büchern Mose verglichen werden können. Der Schlüssel matthäischen Interpretation von Jesus ist: ,,Ihr habt gehört, es ist zu den Alten gesagt.... ich aber sage „(5, 21-22). Für diesen Autor war Jesus der zweite Moses. Jesu Bergpredigt war deshalb dazu bestimmt, sich von der Offenbarung Mose am Berg Sinai kontrastierend zu unterscheiden.
Dennoch wird innerhalb des neutestamentlichen Kanons eindeutig gelehrt, dass Jesus nicht mit einer vollständigen und letzten Offenbarung kam. Im vierten Evangelium heißt es, Christus habe gesagt: ,,Ich habe euch noch vieles zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn der Geist der Wahrheit kommt, wird er euch in alle Wahrheit führen; denn er wird nicht eigenmächtig reden, sondern was er hören wird, das wird er reden, und er wird auch verkünden, was zukünftig ist. Er wird mich verherrlichen, denn er wird nehmen, was meines ist, und euch verkünden. Alles, was der Vater hat, das ist mein; deshalb sagt ich: Er wird nehmen, was meines ist, und euch verkünden" (Joh. 16,12-15).
Diese Verse liefern die Begründung für einen Glauben daran, daß eine kontinuierliche Offenbarung möglich sei. Das vierte Evangelium bestätigt nachdrücklich, daß nach dem irdischen Wirken Jesu noch weitere Wahrheit von Gott erwartet werden kann. Da ja die direkten Jünger nicht vorbereitet waren, die ganze Offenbarung Gottes zu empfangen, müssen die Christen darauf warten, daß die ganze Wahrheit zu einem späteren Zeitpunkt vom Heiligen Geist gegeben wird. Darüberhinaus wird die Tatsache hervorgehoben, daß eine zusätzliche Offenbarung die Bedeutung Jesu nicht mindert. Eine neue Offenbarung werde den Ruhm Jesu noch zusätzlich erhöhen, denn sie werde in Erfüllung seiner Worte erfolgen.
Diese Johanneischen Verse wollen nicht aussagen, daß es zu keinem Unterschied zwischen der ursprünglichen Botschaft Jesu und neuer Offenbarung kommen kann. Das vierte Evangelium selbst unterscheidet sich von den Synoptikern. Sein Verfasser erwähnt wichtige Lehren Jesu nicht (Bergpredigt, Vaterunser und jede Bezugnahme auf die Königsherrschaft Gottes auf Erden). Es fügt viele neue Aussagen hinzu und formuliert Jesu Botschaft neu und radikal. Das vierte Evangelium ändert auch die Reihenfolge der Geschehnisse im Leben Jesu, indem es die Kindheitsgeschichte. die Streitgespräche mit den Pharisäern, das letzte Abendmahl und die Todesangst im Garten Gethsemane fortläßt, wie es auch den triumphalen Einzug an den Beginn seiner Tätigkeit setzt. So weist die Freiheit, mit der der Verfasser die synoptischen Evangelien neu interpretiert, darauf hin, wie er das zukünftige offenbarende Wirken des Heiligen Geistes verstand.
Wir wollen nun einen Text untersuchen, der oft als Beweis angesehen wird, daß das Neue Testament Gottes letzte Offenbarung darstellt. Das letzte Kapitel in unserer Bibel enthält die Warnung: Sich bezeuge jedem. der die prophetischen Worte dieses Buches hört: Wer etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, von denen in diesem Buch geschrieben steht u (Offb 22,18). Dies bedeutet, daß die Offenbarung vollendet ist und Gott jeden straft, der nach zusätzlicher Offenbarung sucht.
Um diesen Vers richtig einzuordnen, müssen wir wissen, daß unser Neues Testament eine Zusammenstellung von 27 verschiedenen Büchern darstellt, geschrieben zu unterschiedlichen Zeiten und verbreitet als einzelne Schriftrollen oder kleine Bücher. ,Die Offenbarung ist ein solches einzelnes Meines Buch. Nach Ansicht der meisten Wissenschaftler wurde es etwa im Jahr 95 nach Christus von einem unbekannten ,,Propheten“ mit dem Namen Johannes(7) geschrieben. Der Verfasser war weder der Apostel Johannes noch der Autor des vierten Evangeliums. Als ein Visionär wollte dieser frühe Christ nicht, daß irgendjemand seine Prophezeiungen von der Endzeit betrügerisch ändert. Apokalyptische Literatur zu revidieren und zu aktualisieren war unter Juden wie Christen eine übliche Praxis. Das Buch der Offenbarung hatte über eine lange Zeit hinweg Schwierigkeiten, als Schrift akzeptiert zu werden, bevor der Kanon im 4. Jahrhundert abgeschlossen war. Trotzdem wurde es, nachdem es letztlich anerkannt worden, an die Position des letzten Buches gestellt, damit die christlichen Schriften mit der Schöpfungsgeschichte beginnen und mit der vollendeten Geschichte enden würden. Einige andere neutestamentliche Bücher wurden nach dem der Offenbarung geschrieben.(8) Die frühen Christen waren demnach nicht der Meinung, daß sich Offb 22,18-19 auf etwas anderes als auf das Buch selbst bezog. Es gibt keinen Grund für uns, anderer Meinung zu sein.
Obwohl die römischen Katholiken festsetzten, daß ,,außerhalb der Kirche kein Heil ist", und obwohl die Protestanten behaupteten, daß die Bibel Gottes letzte Offenbarung enthalte, gab es immer der Christen, die das Versprechen von Gottes neuer Wahrheit hochschätzten, wie es im Johannesevangelium gelehrt wird. Drei Beispiele sollten genügen.
Joachim von Fiore, der im 12. Jahrhundert als Abt eines Klosters in Süditalien lebte, glaubte, daß er Gottes Offenbarung für die Wiederherstellung der Menschheit empfangen habe.(9) Nach ihm kann die Geschichte in drei Abschnitte eingeteilt werden. Das erste Zeitalter umfaßt die Geschichte von Adam bis zu Johannes Täufer. Während dieser Zeit wurden die Menschen von Gott, dem Vater, geleitet, dem sie unbedingtes Vertrauen entgegenbringen sollten. Die zweite Geschichtsperiode war von Gott, dem Sohn, bestimmt. In dieser Zeit sollte die Saat des Christentums ausgebracht werden und gedeihen. Die Menschen sollten von der Hoffnung auf das kommende Königreich der Gerechtigkeit, des Friedens und himmlischer Glückseligkeit inspiriert sein. Aber es muß noch ein drittes Zeitalter anbrechen. Dieses neue Zeitalter wird durch den Heiligen Geist gesegnet und die ganze Menschheit wird von Liebe erfüllt sein.
Joachim von Fiore fügte hinzu, daß sich das Verhältnis des Menschen zu Gott entsprechend der Periode, in der er lebt, in natürlicher Weise verändert. Im Zeitalter des Vaters bemühen sich die Menschen, loyale Diener Gottes zu sein. Im Zeitalter des Sohnes sind sie fähig, ein höheres Niveau zu erreichen, Kinder Gottes zu werden, wie Jesus lehrte. Am Ende der Geschichte werden die Menschen zur erhabensten Stellung von allen erhoben. Die Menschen werden ,,Freunde Gottes", weil ihr Leben vom Heiligen Geist erfüllt ist. Joachim von Fiore glaubte somit an eine fortschreitende, inspirierte Offenbarung Gottes, die den Menschen dazu fähig macht, nach und nach bessere menschliche Gesellschaften zu schaffen.
Ungefähr fünf Jahrhunderte nach Joachim von Fiore reiste eine Gruppe von Kongregationalisten auf der ,,Mayflower“ nach Amerika. Ihr Pfarrer John Robinson, der in Holland zurückblieb, hielt den Pilgervätern eine Abschiedspredigt. Als letzten Rat gab er ihnen darin folgendes Wort mit auf den Weg: ,,Denkt daran - habt keine Angst, über Luther oder Calvin hinauszugehen, denn Gott kann immer noch mehr Licht von Seinem Wort verbreiten.“ Als die Pilgerväter Kirchen in Neu-England gründeten, erinnerten sie sich an die Worte ihres Pfarrers. Deshalb verpflichteten sich die Kongregationalisten in ihrer Vereinbarung über die Kirchenmitgliedschaft, Gottes Willen zu gehorchen, wie er ,,kund gemacht wurde oder kund getan werden wird". Mehr als 350 Jahre lang ist dieser Glaube an mehr Licht ein ehrwürdiges Stück des kongregationalistisch-christlichen Erbes gewesen. (10)
Letztlich hat auch die östliche Orthodoxie den johanneischen Glauben an eine neue Offenbarung nicht völlig ignoriert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertraten die russischen Religionsphilosophen aus dem Kreis der Slawophilen die Ansicht, daß die Christenheit drei Entwicklungsstadien zu durchlaufen habe. Der römische Katholizismus repräsentierte die Christenheit des heiligen Petrus, den Gehorsam betonend. Der später auftretende Protestantismus repräsentiere die Christenheit des heiligen Paulus in der Betonung des Glaubens. Zur gegebenen Zeit werde sich eine neue und großartigere Form des Christentums entwickeln. Sie werde von den Kirchen des Ostens ausgehen. Ihr inspiratives Licht werde der heilige Johannes, ,,der geliebte Jünger“, sein. Die Besonderheit dieses Christentums werde die Einheit von Gott und Mensch wie auch von Mensch und Mensch sein, gegründet auf der Erfahrung der Liebe.(11)
Nach Meinung der Slawophilen betonte der Katholizismus den Gehorsam zu stark, was dazu führte, daß die Kirche unterdrückerisch und diktatorisch wurde. Der Protestantismus reagierte darauf in berechtigter Weise, fiel aber in das andere Extrem. Die Protestanten wurden zu Individualistisch, zu uneinig. Daher muß die neue Christenheit aus dem Osten kommen, wo mystische Theologen den Weg zu einer Einheit von Ordnung und Freiheit, von Loyalität und persönlichem Glauben in einer vereinten Gemeinschaft, die in der Liebe gründet, weisen können.
Die Anhänger des Joachim von Fiore, die Puritaner Neu-Englands
und die Philosophen der russischen Orthodoxie zeigen, daß zumindestens
eine Minderheit von Christen sich immer auf den Glauben eines Neuen Zeitalters
gefreut hat, der alles bisher Erfahrene übertrifft. Und wer weiß,
wieviele einzelne Menschen und Gruppen heute auf ein neues Licht von Gott
warten?
SUN MYUNG MOON UND OFFENBARUNG
Die Behauptung von Reverend Sun Myung Moon, eine neue Offenbarung empfangen zu haben, hat eine beachtliche Kontroverse in Gang gesetzt. Was verstehen wir unter einer neuen Offenbarung? In welcher Beziehung steht sie zu der Offenbarung der jüdisch-christlichen Tradition? Stellen „Die Göttlichen Prinzipien" Reverend Moons eine Interpretation der Bibel dar, einen Zusatz zu Ihr, oder sind sie eine radikale Abkehr von der christlichen Lehre?
Um diese Fragen zu beantworten, wollen wir bestimmte Beispiele Offenbarungserfahrungen im Alten und Neuen Testament untersuchen. Aus der Bibel können wir ersehen. daß die Begegnung mit dem Geist verschiedene Formen hat: Visionen, prophetische Träume, Sprechen in Zungen, Heilungen durch Glauben, wunderbare Begebenheiten. Als nächstes entdecken wir, daß diese parapsychologisch zu verstehenden Ereignisse mehr als einem Zweck dienen. Einige von ihnen, wie der Ruf an Abraham, sein Zuhause zu verlassen, wie Moses Vision vom brennenden Dornbusch und die Erfahrung Jesu bei seiner Taufe, sind entscheidende Ereignisse in Gottes Erlösungsplan. Andere sind im Vergleich dazu weniger wichtig, denn sie haben eher eine individuelle als eine für die Wiederherstellung der Menschheit unverzichtbare Bedeutung. Deshalb würden Christen die Pfingsterfahrung der Urkirche und die Erscheinung der Jungfrau Maria in Fatima oder die Vision des heiligen Franziskus, die aus einem Soldaten einen Bettelmönch machte, nicht auf dieselbe Ebene stellen.
In der Bibel werden die Ereignisse, bei denen Gott zu Abraham. Mose, Samuel, Jesus und Paulus sprach, als besonders wichtig angesehen. Um die Formulierung eines heutigen Theologen zu gebrauchen, so könnten die „Grundoffenbarungen“ genannt werden. (12) Jede dieser Begegnungen von Gott und Mensch weist unterschiedliche Merkmale auf. Und doch haben sie etwas gemeinsam. Das Wort des Herrn brachte für jeden Angesprochenen eine besondere Berufung. Jeder wurde persönlich gerufen, einen entscheidenden Teil von Gottes umfassenden Plan zu erfüllen.
Zudem verlangte die Offenbarungserfahrung eine menschliche Antwort. In der biblischen Tradition sind die wichtigsten Offenbarungen immer mit der Entscheidung des Menschen gekoppelt. Offenbarung und Antwort sind untrennbar miteinander verbunden. Moses sprach auf dem Berg Sinai mit Gott, empfing die Thora und wurde beauftragt, sein Volk zu vereinen, um das verheißene Land einzunehmen. Bei Jesus war es so: sobald er Gottes Wort hörte, ,,du bist mein geliebter Sohn", wurde er herausgefordert, das Kommen der Königsherrschaft anzusagen.
Die Offenbarung an Reverend Moon sollte im gleichen Licht gesehen werden. wie er erklärt, hatte er noch als Jugendlicher eine Jesusvision; Jesus forderte ihn auf, das Werk der Errichtung von Gottes Königreich auf Erden zu vollenden. Deshalb bezog seine Offenbarungserfahrung sich auf eine Sendung von äußerster Bedeutung. Seine Antwort ißt vergleichbar mit der von Jesaja: ,,Hier bin ich; sende mich".
Die folgenden Jahre verbrachte er damit, die ganze Tragweite seiner Antwort zu erwägen. Wie Jesus wuchs Reverend Moon in einem Land auf, das von eschatologischer Erwartung durchdrungen war. Die Situation in Nordkorea glich zu dieser Zeit weitgehend der Palästinas im ersten Jahrhundert. Römische Soldaten hielten Palästina besetzt. Japanische Soldaten herrschten in Korea. Wie die frommen Juden über die apokalyptischen Prophezeiungen des Alten Testaments meditierten, so sehnten sich die unterdrückten koreanischen Christen nach dem Anbruch eines messianischen Zeitalters. In der Zeit, in der Reverend Moon vom Jugendlichen zum jungen Mann heranwuchs, studierten kleine christliche Gruppen das Buch der Geheimen Offenbarung und beteten unter Tränen, daß der lang erwartete Messias kommen möge. Einige Menschen von hohen spirituelle Begabungen sagten voraus, daß die letzten Tage gekommen seien, und daß Korea für die Ankunft von Gottes Neuem Zeitalter eine besondere Rolle spielen werde. Eine Reihe dieser christlichen Seher kündigten das Erscheinen Christi in ihrem eigenen Land an. Wir sollten nicht die charismatisch geladene Atmosphäre übersehen, die Reverend Moons geistigen Fortschritt anregte, förderte und ermutigte. Ebensowenig wie man Jesu Botschaft und Sendung ohne die Zeit, in der er lebte, verstehen kann, kann man auch Reverend Moon nicht ohne sein koreanisches Umfeld verstehen.
Allerdings haben viele Christen Schwierigkeiten, die Möglichkeit zu akzeptieren, daß Gottes neue Offenbarung ihren Ursprung in Korea haben soll. Darunter mögen einige sein, die von Vorurteilen gegenüber Asiaten geblendet werden. Gewiß weit größer ist die Zahl derer, die so daran gewöhnt sind, das Christentum für eine westliche Glaubensrichtung zu halten, daß sie seine östlichen Wurzeln vergessen und seine Vitalität in anderen Teilen der Welt gar nicht zur Kenntnis nehmen. Fundamentalistische Protestanten sehen allein in den Begebenheiten in Israel das maßgeblich Wichtige für das messianische Zeitprogramm.
Gemäß den biblischen Beispielen können wir weder die Orte noch die Personen, denen Gott seine Botschaft enthüllt, einschränken. So betonte auch Barth, daß Gott zu jeder Zeit souverän ist, worin Seine völlige Freiheit impliziert ist. Deshalb wählt Er auch, wen Er will. ,,Wie seltsam von Gott, die Juden zu erwählen!“, sagt ein Dichterwort. In einer Zeit der Großreiche wie Ägypten und Babylon wählte Gott die Juden als Instrument zur Erfüllung seines Zweckes aus. In einer späteren Epoche beauftragte er einen Prinzen vom Palast des Pharao, die Hebräer aus der Sklaverei zu führen. Wieder später sonderte Gott einen Hirtenjungen aus, damit er der neue König von Israel werde. Noch später wurde nicht ein Hoherpriester oder ein berühmter Rabbi gesalbt, um die Bürde der messianischen Aufgabe zu tragen, sondern der Sohn des Zimmermanns aus dem winzigen Nazareth. Durch die Bibel erfahren wir, daß sich Gott in unerwarteter Art und Weise zeigt. Wenn man sich diesen Hintergrund vergegenwärtigt hat, sollte man nicht völlig überrascht sein, wenn sich ein Koreaner durch Gott berufen fühlt, Sein Königreich auf der Erde anzukündigen.
In der biblischen Tradition kann ein weiterer passender Schlüssel zum Verständnis gegenwärtiger Offenbarung gefunden werden. Wenn jemand dazu auserwählt wird, Gottes besonderen Willen auszuführen, und er versagt, wird seine Aufgabe einem anderen übertragen. Wir wollen drei Beispiele hierfür anführen: Mose ist nicht imstande, in das verheißene Land einzuziehen, und seine Sendung wird Josua übertragen. König Saul versagt, und sein Thron wird David gegeben. In neutestamentlicher Zeit wird Jesus von den religiösen Autoritäten seines Landes abgelehnt, so daß der Apostel Paulus beauftragt wird, in der Welt der Heiden nach einem geeigneten Ort zu suchen, um den christlichen Glauben einzupflanzen. Der Erklärung eines modernen Jüdischen Wissenschaftlers zufolge besteht die Funktion des Christentums darin, es dem Davidsstern zu ermöglichen. strahlend auf die weite Welt der Heiden zu scheinen.(13) Es gibt verschiedene Gründe, warum das, was das Judentum nicht leisten konnte, der christlichen Kirche als heilige Sendung übertragen wurde.
Dieses Handeln Gottes in der Vergangenheit hat für unsere Lehre über Offenbarung bedeutsame folgen. Nachdem wir die Vergangenheit betrachtet haben, können wir den folgenden Schluß ziehen: Gott führt seinen eigentlichen Schöpfungsplan aus und wird dabei an einem neuen Ort erscheinen und ein anderes Individuum für das messianische Amt salben, welches einst Jesus innehatte. Dabei muß man zwei mögliche Mißverständnisse vermeiden. Zunächst heißt dies nicht, daß Gott nie an einem anderen als an dem neuen für seinen Plan gewählten Ort erscheint, um Gläubige zu trösten, ihnen Rat zu geben und sie zu inspirieren. Im Gegenteil, man kann in vielen Teilen der Welt mit einer großen Anzahl von geistigen Phänomenen rechnen, die unsere Augen auf die Ankunft des messianischen Zeitalters richten. Zweitens schmälert das in keiner Weise die historische Sendung Jesu. Ein neuer Messias ist aufgerufen, das Werk Jesu fortzusetzen, nach dessen Verwirklichung er sich so sehr gesehnt hat. Gott hat sich nicht entschieden, die gegenwärtigen Anhänger Jesu zu verlassen und eine völlig neue Richtung einzuschlagen. Gottes jetzige Absichten verstärken, beleben und erweitern sogar seinen Plan, in dem jede christliche Konfession ihren tiefen Sinn hat. Gottes Neues Zeitalter und neue Offenbarung stellen seine Antwort auf das tägliche Gebet von Millionen von Christen dar: ,,Dein Reich komme, Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden".
Gott kann sich nur dort neu offenbaren, wo Er schon Vorbereitungen getroffen hat. In Israel formte Gott die Herzen der Menschen über Jahrhunderte hinweg. Kein Land wurde Jemals in solchen Maß geistig genährt. wie es in Israel durch die nicht abreißende Kette der großen Propheten geschah. Von Abraham an wurden die Israeliten immer wieder an die Grundsätze von Recht, Vergebung und Frieden erinnert. Hierauf konnte das von Gott inspirierte Gebäude einer wohltätigen sozialen Ordnung errichtet werden. Besonders in der deuteronomischen Gesetzgebung wurden die anspruchsvollen prophetischen Grundsätze auf die konkreten Gesellschaftsprobleme angewendet. Von großer Wichtigkeit waren auch die vielen Prüfungen, die die Hebräer durchlitten, damit sie Gottes Willen erführen.
Ähnlich gründlich wurde die griechisch-römische Welt vor dem Auftreten des Heidenapostels Paulus vorbereitet. Im Gefolge der Eroberungen und der kulturellen Einflußnahme von Alexander dem Großen wurde eine mehr oder weniger einheitliche Zivilisation von den Grenzen Indiens bis nach Spanien geschaffen. Die römischen Legionäre sorgten in der Folge für den Schutz gegen fremde Angreifer und hielten die innere Sicherheit aufrecht. Das Reich der Cäsaren wurde in der Regel weitaus gerechter und mit größerem Respekt vor den lokalen Traditionen regiert, als man es bis dahin erlebt hatte, zumindestens, was solch ein großes Reich angeht. Griechische und römische Philosophen bereiteten eine moralische und intellektuelle Grundlage für die Christenheit vor. Da ja die gebildeten und handeltreibenden Klassen etwas Griechisch sprachen, konnten viele Menschen die Evangelien und neutestamentlichen Briefe, die in dieser Sprache geschrieben waren, lesen. Somit konnten diese Bücher in Ägypten, im Irak, in der Türkei und den Ländern des Balkans und Westeuropas verstanden werden. Darüberhinaus hatten die Römer ein Netzwerk großer Straßen angelegt, die die Missionare nutzen konnten, um die christliche Botschaft zu verbreiten. Auch in geistiger Hinsicht war die mediterane Welt auf das Evangelium vorbereitet. Die Stimmung war von mystischer Erwartung durchdrungen, und viele suchten aktiv nach göttlichem Licht an seltsamen Orten.
Diese Faktoren ermöglichten es Gott, sich im Alten und Neuen Testament zu offenbaren. Im Analogieschluß läßt sich annehmen, daß ähnliche Verhältnisse in unserer Zeit dieselbe Art göttlicher Aktivität zur Folge haben können. Geschichte wiederholt sich nie genau. Wie Toynbee und andere hervorgehoben haben, gibt es dennoch Zeitalter, die in groben Zügen parallel verlaufen und ähnliche Kennzeichen aufweisen. Wie Gott schon Israel, die griechisch-römische und die westeuropäische Welt dazu benutzt hat, um bestimmte Aktionen im Rahmen der Vorsehungsgeschichte durchzuführen, so kann man vernünftigerweise von Ihm erwarten, daß Er eine neue Offenbarung für unser Zeitalter verkündet. Zu mindestens unbewußt mögen viele Menschen diese Tatsache anerkennen. Heute scheint deshalb ein bemerkenswertes Interesse am Glauben anderer Länder zu bestehen.
Unser Zeitalter steht für die zunehmende Verbindung zwischen den Nationen und Kulturen der ganzen Welt. Der moderne Mensch lebt zum ersten Mal in einem einzigen ,,Weltdorf“. Wenn Gott ein besonderes Wort an unsere Zeit richtet, kann es nicht national, rassisch, kulturell oder sogar religiös eingeschränkt werden. In politischer Hinsicht sind wir alle Internationalisten. Was die Rassen angeht, so haben wir die unterschiedlichen Werte einer jeden ethnischen Gruppe zu akzeptieren. Theologen der Dritten Welt betonen, daß die westlich orientierte und von Weißen beherrschte Kultur der letzten drei Jahrhunderte für immer vergangen ist. Auch in Glaubensdingen verschwinden die falschen Barrieren zwischen Christen und sogenannten Heiden.
Viele Sozialwissenschaftler vertreten die Auffassung, daß die Zukunft den ungeheuren Menschenmassen Asiens gehört und sagen den Anbruch einer pazifischen Ara voraus. Europa hat seit 1945 dramatisch an Einfluß verloren. Die Umorientierung der amerikanischen Politik von Westen nach Osten kündigt eine entsprechende Verschiebung des Weltzentrums an. Immer gibt es eine innere Verbindung zwischen dem, was den Menschen auf Erden bewegt, und Gottes Plänen für die Zukunft, denn Er ist der souveräne Herr der Geschichte.
Auch religiös gesehen wendet sich die moderne Welt dem Osten zu, um Führung und Erleuchtung zu erfahren. In der Zeit, als die etablierten Kirchen empfindliche Rückschläge erlitten, wurden hunderttausende junge Menschen, deren Eltern Christen waren, von asiatischen Glaubensrichtungen angezogen. Ein großer Teil der sehr empfindsamen und geistig eingestellten Jugend unserer Universitäten ist von indischen Veden oder Bhakti-Yoga, chinesischem Taoismus und Japanischem Buddhismus, besonders dem Zenbuddhismus, inspiriert.
Angesichts einer solchen Situation hat Korea ein einzigartiges religiöses Erbe. 1500 Jahre lang hing es der buddhistischen Religion an. 600 Jahre lang wurde es von der konfuzianischen Ethik geformt. Schließlich brach aus Korea im 20. Jahrhundert ein bemerkenswert dynamisches Christentum hervor. Wenn Gott ein für neue Offenbarung vorbereitetes Land sucht, so bietet Korea offensichtliche Vorteile.
Das alte Palästina bot Gott einen besonderen Raum, in dem Sein Plan für die Wiederherstellung der Welt seinen Ausgang nehmen konnte - teilweise wegen seiner geopolitischen Lage. Israel war eine Nation, die an der Schnittstelle dreier Kontinente lag. Korea liegt strategisch ziemlich ähnlich. Historisch gesehen diente es als Brücke zwischen dem chinesischen Festland und Japan. In unserer Zeit liegt Korea noch auf der Grenze, die die kommunistische Welt von ihren Gegnern trennt. Die kreativsten und herausfordernsten Möglichkeiten entstehen in Grenzsituationen, wie Tillich behauptete.(14) Warum sollten wir dann überrascht sein, wenn sich ein solcher Ort als der geeignete Platz für Gott erweist, Seine neue Offenbarung zu verkünden?
Als nächstes müssen wir kurz das Verhältnis von Reverend Moons Lehre zur biblischen Tradition betrachten. Dieses entscheidende Thema ist weithin falsch interpretiert worden. Worin genau besteht die Verbindung zwischen der biblischen Offenbarung und Reverend Moons „Göttlichen Prinzipien"? Ist Ihre Lehre im Einklang mit dem breiten Strom jüdisch-christlicher Tradition - oder stellt sie einen radikalen Bruch mit ihr dar?
Christliche Leser der ,,Göttlichen Prinzipien“ werden sofort die biblische Sprache und die biblischen Grundauffassungen wiedererkennen. ,,Die Göttlichen Prinzipien“ sprechen von solchen traditionell christlichen Grundlehren wie der Schöpfung, dem Fall, der Ursünde, der Heilsgeschichte des Alten und neuen Testamentes, der Messianität Jesu und der eschatologischen Vollendung der Geschichte. Reverend Moon behandelt Gottes Erlösungswerk grundlegend in der Ausdrucksweise der Geschichte Israels und der christlichen Kirche.
In allen Punkten, die gewöhnlich angeführt werden, um die jüdisch-christliche Offenbarung von anderen abzugrenzen, wird die biblische Anschauung von den ,,Den Göttlichen Prinzipien“ aufrechterhalten. Weil Gott alles erschaffen hat, ist die Welt der Materie eher gut als schlecht zu nennen. Es gibt keinen radikalen Dualismus zwischen Fleisch und Geist des Menschen. Gott ist eher personal als nicht-personal zu verstehen, ein liebender Vater und nicht einfach das metaphysische Absolute. Zeit ist wirklich und sinnvoll, nicht eine Illusion. Irdische Beziehungen sind von lohnendem Wert. Familienleben und soziale Verantwortung des Menschen haben für Gott und uns selbst innere Bedeutung. Schließlich wird die Geschichte zielgerichtet gesehen, da Gott in der Geschichte handelt, um seine Schöpfungsabsicht zu erfüllen. In all diesen Positionen nehmen die ,,Die Göttlichen Prinzipien" den biblischen Standpunkt ein.
Worin besteht dann die Beziehung der neuen Offenbarung zur alten? Betrachten wir zunächst ,,Die Göttlichen Prinzipien" als eine Bestätigung und Klärung der biblischen Offenbarung. In dieser Hinsicht mag es hilfreich sein, sie mit einer Standardabhandlung in systematischer Theologie zu vergleichen. Wie nehmen sich „Die Göttlichen Prinzipien“ zum Beispiel Im Vergleich zu Calvins „Institutio Christiane Religionis" (Unterweisung in der christlichen Religion) aus? Wie die ,,Unterweisung" behandeln auch die „Göttlichen Prinzipien" die Hauptlehren des christlichen Glaubens. In der ,,Unterweisung" bemerken wir, daß Calvin mit früheren Christen im Verständnis gewisser biblischer Grundlehren nicht übereinstimmt. Wie Calvin und anders ais einige moderne Theologie akzeptieren ,,Die Göttlichen Prinzipien" die biblische Erzählung von Adam und Eva ebenso wie die endzeitliche Hoffnung auf ein Reich Gottes auf Erden. Anders als Calvin, jedoch in Übereinstimmung mit manchen modernen Theologen, verneinen ,,Die Göttlichen Prinzipien" die Augustinische Lehre von der Prädestination und interpretieren die Auferstehung Jesu eher geistig als körperlich. Die Christen haben von jeder ihrer Hauptlehren abweichende Interpretationen geliefert. Von diesem Standpunkt aus gibt es keinen fundamentalen Unterschied zwischen den „Göttlichen Prinzipien" und irgendeiner anderen systematischen Erklärung der christlichen Lehre.
Freilich besteht auch ein grundlegender Unterschied zwischen den ,,Göttlichen Prinzipien" und der ,,Unterweisung". Die Hauptpunkte der Vereinigungslehre stellen in den Augen des fundamentalistischen Christentums, das bis vor kurzem in Korea vorherrschte, wesentliche Neuerungen dar. Reverend Moons Verkündigung so tiefer Wahrheiten hatte eine revolutionäre und sensationelle Wirkung, weil sie von den herkömmlichen evangelischen und katholischen Positionen so radikal verschieden war. Dies gilt auch für die liberalen Christen: für sie sind ,,Die Göttlichen Prinzipien" gleichermaßen umstritten.
Was ist gemeint, wenn wir sagen. daß ,,Die Göttlichen Prinzipien" geoffenbart seien? Wir glauben daran, daß Gott an Reverend Moon den grundlegenden Kern seiner Lehren geoffenbart hat. Dieser Kern wurde auf der Basis des Austausches mit seinen frühen Schülern veranschaulicht und ausgearbeitet. Daher enthält das Buch sowohl die geoffenbarte Essenz der ,,Göttlichen Prinzipien“ wie auch veranschaulichende Erläuterungen,
Warum glauben wir, daß ,,Die Göttlichen Prinzipien“ offenbarte Wahrheit für alle sind? Weil auch Mitglieder anderer Religionen erleuchtet werden können und ein besseres Verständnis ihres eigenen Glaubens finden, wenn sie einmal ,,Die Göttlichen Prinzipien“ mit Sorgfalt und offenem Sinn lesen. Die überzeugenden Auslegungen des Herzens Gottes und des letzten Zieles der Geschichte in den ,, Göttlichen Prinzipien " kann die Menschen näher an Gottes Liebe heranbringen, sie bietet der menschlichen Bestimmung eine klare Ausrichtung. Daher liefern ,,Die Göttlichen Prinzipien" die wesentlichen Elemente der Einheit für alle Bekenntnisse.
Zum 3. Kapitel Das Prinzip der Schöpfung
Anmerkungen
1 E. Brunner, Theologie der Krise (1929), 2. Kap.
2 L.H. DeWolf, Theology of die Living Church (1953), 33-36;vgl.
auch sein Buch ,,Religious Revolt Against Reason" (1971).
3 Pannenberg, ,,Dogmatische Thesen über die Lehre von der Offenbarung"
Offenbarung als Geschichte (1968). 125-158.
4 L.H. DeWolf a.a.O. 68-94.
5 G. Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (1968), 190-192.
6 W.G. Kümmel, Einführung in das Neue Testament (1968)
475-503; W. Marxens, Das Neue Testament als Kirchenbuch (1972).
7 N. Perrin, The New Testament, An lntroduction (1974), 80-82 R.M.
Grant, A Historical Introduction to the New Testament (1972), 235-240.
8 1. und 2. Petrus-, Hebräer-, 1. und 2. Timotheus-, Titus-,
vielleicht 2. Thessalonicher-, Epheserbrief. das Johannesevangelium und
die Johannesbriefe.
9 M. Reeves, Joachim of Fiore and die Prophetic Future (1976).
10 W.S. Hudson, Religion in America (1973). 28f.
11 Zu den slawophilen Philosophen sind auch Solowjew und Khamjakow1
Dostojewski und Nikolai Berdjajew zu rechnen.
12 J.Macquarrie. Principles of Christian Theology (1977), 8.
13 F.Rosenzweig. Der Stern der Erlösung, dt. Ausgabe (1921/1976).
14 P. Tillich, dt. Ausgabe: Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul
Tillichs (1962).