Die Christologie befaßt sich mit der Bedeutung der Person Jesu und mit der Bedeutung seines Tuns. Daher unterscheiden wir zwei Teile. Der eine legt dar, wer Jesus war. Der andere erklärt, was Jesus für die Menschheit getan hat. Deutungen der wirklichen Natur und der Autorität Jesu gibt es, seit er von Petrus als Messias begrüßt wurde: sie erreichten in den trinitarischen und christologischen Dogmen der ökumenischen Konzilien von Nizäa (325 n.Chr.) und Chalkedon (451 n. Chr.) ihren Höhepunkt. Fast ebenso wichtig, doch niemals so offiziell verbreitet wurden die Lehren über die sühnenden und rechtfertigenden Wirkungen von Jesu Wirken. Nach der gängigen Sicht ist Jesus Christus sowohl Gott wie Erlöser.
Zu dieser traditionellen Christologie bekennen sich die meisten östlichen Orthodoxen, die konservativen römischen Katholiken und evangelikalen Protestanten. In ihrer Sicht griff Gott der Vater auf neue und endgültige Weise in die Geschichte ein, um Seine Gemeinschaft mit der sündigen Menschheit wiederherzustellen. Gott sandte Seinen Sohn, bekleidete ihn mit unserem Fleisch, um die Menschheit zu einer Gemeinschaft der geschwisterlichen Liebe zu gestalten. Was war also die Sendung Christi? Sein Werk war zweifach: Die Menschen Satan zu entreißen, indem er sie vom sündigen Bereich der Dunkelheit befreit, und die Welt mit Gott zu versöhnen.
Im Anfang hatte Gott alles durch Christus erschaffen. Gott ernannte Christus auch zum Erben aller Dinge, so daß Sein Sohn die ganze Schöpfung wiederherstellen könne. Daher sandte Gott Jesus als Mittler zwischen Sich selbst und dem gefallenen Menschen in die Welt. Da Christus Gott ist, wohnt nach traditionalistischer Auffassung die Fülle der Gottheit in ihm. Doch weil er auch die menschliche Natur besitzt, ist er der neue Adam, das Haupt einer erneuerten Menschheit. So inkarnierte sich der Sohn Gottes, um die Menschen zu Teilhabern der göttlichen Natur zu machen. Er kam als niedriger Knecht unter die Menschen und gab sein Leben als Lösegeld für die Sünden der ganzen Menschheit.1 Die Göttlichen Prinzipien (1972)
Seit 1900 wurde jeder Aspekt solcher traditioneller Christologie von Theologen und Bibelkritikern in Frage gestellt. Völlige Einhelligkeit der verschiedenen Konfessionen hinsichtlich der Person und des Werkes Christi hat zwar niemals bestanden; doch diese unterschiedlichen Meinungen sind in letzter Zeit allgemein bekannt geworden. Man sollte deshalb anerkennen, daß die moderne Christenheit eine Vielfalt von Meinungen umfaßt, von denen keine ganz die theologische Szene beherrscht. In der Christologie ist heute wie vielleicht niemals zuvor alles im Fluß. Klerus wie Laien suchen bessere Antworten auf die uralte Frage, die Jesus stellte: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?"
Wir wollen zuerst einige wenige der besonders einflußreichen Christologien des zwanzigsten Jahrhunderts betrachten. Barth betont, daß Jesus der Sieger über Sünde und Tod sei. Die Versöhnung des Menschen mit Gott hat bereits stattgefunden. Wegen des hingebungsvollen Lebens und Todes Jesu Christi hat Gott wirksam, ganz und objektiv die Menschheit zu Sich selbst hin wiederhergestellt. Diese Bekehrung des Menschen zu Gott, die von Jesus Christus bewirkt wurde, kam gänzlich von außen. Die Menschen hatten da keinen Einfluß. Durch Christus befreite und erlöste Gott den Menschen ein für allemal. So ist der lebendige Jesus Christus der Kreis, der alle Menschen und jeden einzelnen in Urteil und Gnade Gottes einschließt.2
Doch wenn die Wiederversöhnung schon stattgefunden hat, worin besteht dann noch die Rolle des Menschen? Der Mensch hatte keine Rolle in Gottes Wiederversöhnungsakt. Barth behauptet, daß Gott allein aus Eigenem handelte. Gott hat bereits die Tafel für alle Menschen gedeckt und lädt uns ein zu dem Festmahl, das Er vorbereitet hat. Alles, was die Menschen zu tun haben, ist, diese Tatsache zu erkennen und sich zum Fest niederzulassen. Wiederversöhnung ist dann nicht wirklich von einer Änderung unserer Haltung auf unserer Seite oder unserem Glauben oder unserem gerechten Leben abhängig. Gott hat bereits aus eigener Initiative die menschliche Situation verändert. Christus ist bereits für alle Menschen gestorben, so daß alle frei sind von Schuld. Sünde und Tod.
Da Christus die Menschheit repräsentiert und sein sühnendes Handeln für alle gilt, verneint Barth die calvinistische Lehre von der doppelten Prädestination. Gott hat keinen zu ewiger Verdammnis vorherbestimmt. Anders zu denken heißt, Gottes Freiheit einzuschränken, indem man Sein Handeln vom Verhalten des Menschen abhängig macht. Doch widerspricht Barth auch der gewöhnlichen Lehre von der allgemeinen Wiederherstellung. Gott muß nicht die ganze Menschheit retten, denn auch das würde Seinen freien Willen einschränken. Dennoch tendiert Barth zur allgemeinen Wiederherstellungslehre, weil er betont, daß Gottes Liebe alle Menschen erreicht, und daß die göttliche Gnade alle Hindernisse überwinden wird. In Barths Worten: Der Strom der Gnade Gottes ist zu mächtig und der Damm, den wir ihr entgegensetzen, ist zu schwach, als daß wir etwas anderes als den Zusammenbruch des Dammes und das Überfluten des mächtigen Wassers erwarten könnten.3
Wenn Christus wirklich bereits Gott und Mensch versöhnt hat. wie kann man das gegenwärtige Übel erklären? Für Barth hat das Böse keinen positiven ontologischen Status. Böses ist lediglich Chaos oder das Nichtige. In Jesus Christus ist das Böse überwunden und durch den positiven Willen von Gottes überströmender Herrlichkeit zerstört. Gott hat das Böse im Lichte des Kreuzes entmachtet. Wir mögen denken, daß das Böse existiert, doch dies ist eine Illusion der Menschen, deren Augen noch nicht für den Triumph Christi geöffnet sind. Wenn jemand Glauben hat, so erkennt er, daß Gott in Christus alles Böse entwurzelt hat.
Für Barth ist das einzige, was zu tun ist, bereits völlig durch Christus vollbracht worden. Was Christen daher zu tun haben, ist einfach diese Tatsache zu verkünden. Nichts anderes ist erfordert, da Christus bereits gesiegt hat. Die Menschen sind einfachhin eingeladen, zu sehen, was geschehen ist, und dankbar au sein für Gottes siegreiche Liebe.
Reinhold Niebuhrs Christologie wächst aus seinem „prophetischem Realismus" heraus.4 Für ihn gestaltete Jesus den vorherrschenden messianischen Glauben seiner Zeit um. Die alttestamentliche Vorstellung vom Messias enthält drei Elemente: l. Einen egoistischen Glauben an einen künftigen Triumph der hebräischen Nation; 2. Den Glauben an einen universalen Sieg des Guten über die bösen Kräfte in der Geschichte; 3. Ein überethisches prophetisches Verständnis der Geschichte. Die hebräischen Propheten wie Amos und Deutero-Jesaja gingen weit über die gewöhnliche nationalistische und rassistische Form des Messianismus hinaus. Herrlichkeit und Segen des messianischen Zeitalters würden nicht nur für die Juden sein. Dennoch erwarteten diese Propheten im allgemeinen, daß das Reich Gottes irdische Macht mit Güte verbinden würde. Gleichzeitig waren sich die hebräischen Propheten bewußt, daß alle Nationen gegen Gott rebellieren, und daß die Geschichte dem göttlichen Gesetz zuwider ist. Wie kann dann Gott die Geschichte für ihre Sünden richten und sie doch gleichzeitig erlösen?
Nach Niebuhr hat Jesus den hebräischen Legalismus und den messianischen Nationalismus abgelehnt. Dann habe er die Bedeutung der Geschichte tiefgreifend durch die Aussage neu gedeutet, daß der Messias leiden müsse.5 Durch die Verbindung der Messiasidee mit der des leidenden Gottesknechtes gab Jesus eine so schockierende Geschichtsdeutung, daß er abgelehnt wurde. Seine Zeitgenossen erwarteten, daß der Messias über alles Böse triumphieren und all die schmerzvollen Widersprüche des Lebens zwischen Ideal und Wirklichkeit lösen würde. Jesus verneinte diese Hoffnung.
Wenn der Messias in die Geschichte eintritt, muß er leiden. Reine Liebe muß stets leidende Liebe sein, weil das Leben des Menschen immer der Kontingenz, der Notwendigkeit, dem Stolz und der Korruption unterworfen ist. Die Geschichte widerspricht unvermeidlicherweise unseren Idealen, wie wir am Kreuzestod Christi erkennen.
Niebuhr war sich der Zweideutigkeiten und der Ironie der Geschichte deutlich bewußt. Wann immer die Menschen sagen, sie hätten das Ideal verwirklicht, lügen sie oder spielen sich auf. Jede Kultur trägt den Samen zu ihrem eigenen Untergang in sich. Die geschichtlichen Menschen sind alle Sünder, weil es keinen Weg gibt, die Selbstzentriertheit und den Stolz zu vermeiden. Es ist unmöglich, Utopia in die Wirklichkeit umzusetzen.
Die Evangelien sagen, daß das Reich Gottes gegenwärtig und doch zukünftig sei. Wie ist es gegenwärtig? Der biblische Glaube erkennt den Wert dieser Welt an. Er nötigt uns nicht, aus der Geschichte zu fliehen. In diesem Sinn ist also die Herrschaft Gottes schon in gewissem Ausmaß hier. Gleichzeitig bleibt das Reich in der Zukunft. Die Geschichte kann niemals vollkommen sein. Wegen der Endlichkeit und Sünde können wir das Ideal nicht verwirklichen.
Die Vollendung der Geschichte liegt jenseits des zeitlichen Prozesses. Es wird niemals ein messianisches tausendjähriges Reich in der Geschichte geben. Christen bejahen die letzte Souveränität Gottes und die letztendliche Überlegenheit der Liebe, doch sie täuschen sich nicht selbst durch den Gedanken, daß diese innerhalb der endlichen, zeitlichen Bedingungen Platz finden könnten.
Emil Brunners Lehre von Christus stellt einen typischen modernen Ausdruck der Reformationstheologie dar.6 Für ihn ist der Glaube an Christus das Zentrum des Christseins, die Fundierung aller anderen Lehren. Wie andere kritische Theologen kritisiert Brunner das liberale protestantische Jesusbild. Der Liberalismus ist inadäquat, weil er von Jesus lediglich als einem großen Lehrer oder religiösen Genius denkt. Diese Vorstellung verkennt den fundamentalen Anspruch des Neuen Testamentes, daß Jesus der Christus sei, eine völlig einzigartige Person und nicht einfach eine unter vielen hervorragenden religiösen Persönlichkeiten der Geschichte.7
Brunner lehnt auch den Fundamentalismus ab. Die Fundamentalisten glauben, Jesus sei der Sohn Gottes, weil dies in der Bibel steht. Mit anderen Worten, sie leiten ihren Glauben von der Autorität der Bibel her. Das bedeutet, daß sie stillschweigend den Glauben an die Schrift an die Stelle des Glaubens an Jesus setzen. Tatsächlich ist ihre Religion eher die eines Buches als ein Vertrauen in Jesus. Fundamentalisten erheben die Bibel zu einer Stellung, die höher ist als die Jesu.
Wie Calvin befaßt Brunner sich zuerst mit dem rettenden Werk Christi, dann mit seiner Person. Die Messianität Jesu soll funktional verstanden werden. Wenn Jesus wirklich der Christus war, dann mehr aufgrund dessen, was er tat, als aufgrund dessen, was er war. Die neutestamentlichen Titel für Jesus beschreiben, welches Werk Gott durch ihn zum Segen der Menschheit wirkt. Er ist der Christus, weil er die Menschen aus dem gegenwärtigen Zeitalter herausführt und Gottes Herrschaft über die Erde einleitet. Er ist nicht metaphysisch Gottes Sohn, sondern weil Gott Seine Autorität Jesus übergibt. Ähnlich ist er der Herr, weil ihm das Recht verliehen ward, über die Kirche zu regieren. Alle neutestamentlichen Titel sind funktional anstatt „wirklich“ (ontologisch).
Wie Calvin aufgezeigt hat, bedeutet das Messias-Sein Jesu, daß er das dreifache Amt des Propheten, Priesters und Königs innehat. Christus war ein Prophet aufgrund seiner Lehre. Seine ganze Lehre setzt messianische Autorität voraus. So konnte er zum Beispiel das geoffenbarte Gesetz des Moses korrigieren oder aufheben, weil seine Messias-Autorität über die der Thora hinausgeht. Jesu Botschaft ist jedoch nicht doktrinär. Jesus verkündet zwei Dinge: einen neuen Ruf nach Gerechtigkeit und das Geschenk des kommenden Reiches Gottes. Das verdeutlicht seine prophetische Funktion.
Obwohl Jesus im „technischen“ Sinne ein Laie war, führte er eine priesterliche Rolle aus. Als Priester sühnt Jesus für die Sünden der Menschheit. Das vierte Evangelium beschreibt ihn als das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt (1,29), und der Hebräerbrief nennt ihn unseren Hohenpriester (3,1f). Doch nach Brunner war das sühnende Werk Christi nicht auf seinen Kreuzestod begrenzt. Jesu ganzes Leben war ein Akt der priesterlichen Lossprechung und Wiederversöhnung. Sein ganzes Leben offenbart den gnädigen Gott, der Seine Arme zu Seinen verlorenen Geschöpfen ausstreckt. Jesus erfüllte das Gesetz aktiv durch seine freigebige Liebe - eine rettende Liebe.8
Die traditionelle Lehre von der Sühne deutet die erlösende Wirkung des Kreuzes. Nach Brunner offenbart das Kreuz an erster Stelle Gottes unbedingte Liebe. Er liebt uns trotz unserer Sünden und unserer rebellischen Natur. So nimmt Gott bereitwillig die Schuld des Menschen auf Sich. Zweitens offenbart das Kreuz, daß Gott ebenso sehr gerecht wie liebend ist. Wegen seiner Sündhaftigkeit sollte der Mensch als Verbrecher hingerichtet werden, doch Christus leidet an seiner Stelle. Jesus stirbt freiwillig für uns, als Lösegeld für die Sünden vieler. Drittens enthüllt das Kreuz unsere aktuelle Situation, unser Bedürfnis nach Gerechtwerdung. Wir bedürfen der Rettung. Daher stellt Gott den Menschen wieder in seine ursprüngliche Stellung als Ziel der Schöpfung. Wie Brunner ausführt, gibt es sowohl objektive wie subjektive Aspekte der Sühne. Subjektiv hat das Kreuz eine tiefe Wirkung auf die Menschen. Objektiv hat es eine Wirkung auf Gott, indem es tatsächlich Seine Beziehung zu uns ändert.
Neben seinem Prophetsein und Priestertum hat Jesus, der Messias, ein königliches Amt. Jesus verkündet das kommende Reich Gottes. Er besiegt die gottfeindlichen Mächte. Fortan regiert Christus durch Liebe und den freien Gehorsam derer, die ihm vertrauen. Doch Christus ist nur potentiell der göttliche Herrscher über alle Menschen. Seine wahre Herrschaft wird erst am Ende der Geschichte voll aufgerichtet sein.
Nach diesem Blick auf Brunners Verständnis von Christi Werk können wir nun die Auswertung für Jesu Person betrachten. Brunner beginnt mit dem Menschen Jesus. Durch die Begegnung mit dem Menschen können wir zur Erkenntnis Gottes kommen. Jesus teilte unser gewöhnliches Menschsein. Er war ebenso kreativ wie wir. Er war allen natürlichen Wachstumsgesetzen unterworfen. Er litt an den gewöhnlichen menschlichen Begrenzungen. So wurde er zum Beispiel versucht, obwohl das Neue Testament nirgendwo sagt, daß er einer Versuchung erlegen wäre. Sein Wissen war begrenzt. Er konnte nicht die Zukunft voraussehen, zum Beispiel das Datum des Anbruchs des Gottesreiches.9
Und doch war Jesus nicht einfach ein Mensch wie wir. Sein Leben war gänzlich eins mit Gottes Willen. Er personifizierte den Willen Gottes. Er war personifizierte göttliche Liebe. Die Sünde spielte keine Rolle in seinem Leben. Und was das Wichtigste ist: Er war einmalig, weil er messianische Autorität beanspruchen konnte. Brunner leugnet die jungfräuliche Geburt Jesu. Diese Vorstellung war nicht Teil der ursprünglichen christlichen Botschaft. Daher nennt er sie einen „Fremdkörper“ im Neuen Testament.10
Jesus ist Gott-Mensch weil er: l. wahrhaft Gott offenbart; 2. uns mit Gott versöhnt und 3. uns zu vertrauensvollen Dienern Gottes macht. Aus diesen Gründen wohnte Gott in Christus. Nach Brunner: Wenn Jesus der Erlöser in Person war, dann mußte er Gott sein. So ist Jesus derjenige, in dem Gott uns antrifft - personal, nicht apersonal.
Brunner leugnet die physische Auferstehung und die körperliche Himmelfahrt Jesu.11 Diese Dogmen seien nicht wesentlicher Teil des Osterglaubens. Worauf es für die ersten Jünger am meisten ankam, war nicht das leere Grab, sondern die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus als einer geistigen Realität. Für Brunner bedeutet Auferstehung des Fleisches die Fortsetzung der individuellen Personalität nach dem Tode. Wenn die Christen von der Erhöhung Christi sprechen, verwenden sie ein Gleichnis, welches bedeutet, daß Christus von Gott eingesetzt ist, um die Herrschaft über die Menschheit auszuüben.
Brunner verurteilt die „Zwei-Naturen-Lehre“ von Nizäa und Chalkedon als zu abstrakt. Alle Spekulation, auf welche Weise die Inkarnation zustande kam, oder wie der historische Jesus „wahrer Mensch und wahrer Gott“ sei, ist fruchtlos. Wenn wir philosophisch zu erklären versuchen, wie Jesus Christus sowohl Gott wie Mensch sei, enden wir in den logischen Widersprüchen des Nestorianismus oder des Monophysitismus. Die Einheit der Person Jesu ist ein Geheimnis jenseits intellektueller Formulierung. Daher bekräftigt Brunner „das unausdenkliche, unvorstellbare Wunder" der Inkarnation12 als ein übernatürliches Ereignis, daß allein im Glauben angenommen werden müsse.
Die Vereinigungskirche stimmt neueren Auffassungen in der Christologie zu, daß Jesus Mensch war, ebenso aber in gewisser Form göttlich. D.M. Baillie stellte fest, daß die Suche nach dem historischen Jesus die Theologie heute nötigt, die volle Menschlichkeit Jesu Christi ernster zu nehmen als jemals zuvor. In der Vergangenheit nahmen die Gläubigen nicht recht wahr, daß Christus mit ihnen „wesensgleich“ war. Sie hätten nicht zugegeben, daß menschliches Wachstum, Unwissenheit, Wandelbarkeit, Kampf und Versuchung Züge des Lebens Jesu gewesen sind. Doch heute, sagt Baillie, ist der Glaube an Jesu volle Menschlichkeit zu sich selbst gekommen.13
Das volle Menschsein Jesu wird sowohl von Katholiken wie von Protestanten bekräftigt. Der katholische Exeget R.E. Brown schrieb, viele Christen hegten die Vorstellung, daß Jesus in Galiläa mit einem Heiligenschein über seinem Haupt umherwandelte. Sie gehen am Bild der Evangelien von Jesus vorbei: eine Person, die manchmal müde oder ärgerlich und auch mit Versuchungen zu kämpfen hat, und jemand, der von dem religiösen und politischen Establishment seiner Zeit als ein fanatischer Pöbelaufwiegler behandelt wurde.14
Nennt das Neue Testament Jesus nicht Gott? Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage. Wiederholt macht Jesus bei den Synoptikern eine klare Unterscheidung zwischen Gott und sich selbst. Als Jesus zum Beispiel im Garten oder am Kreuz betet, spricht er offensichtlich nicht zu sich selbst. Die Paulinischen Briefe und Pastoralbriefe unterscheiden zwischen dem einen Gott. dem Vater, und dem einen Herrn Jesus Christus (l Kor 8,6) oder dem einen Gott und dem einen Mittler, dem Menschen Christus Jesus (1 Tim 2,5).
Sogar im Johannesevangelium erklärt Christus, daß der Vater größer sei als er selbst (Joh 14,28). Die Exegeten schließen daher im allgemeinen, daß die frühesten Schichten des Neuen Testamentes nicht von Jesus als Gott sprechen.
Doch drei Passagen gebrauchen ausdrücklich das Wort „Gott“ (theos), um Jesus zu bezeichnen (Hebr l,8f;Joh 1,1:20,28), und es gibt einige Texte, wo der Gebrauch des Ausdrucks „Gott“ für Jesus möglich, doch nicht sicher ist (Tit 2,13; l Joh 5,20; Rom 9,5 und 2 Petr 1,1), Mit anderen Worten, Jesus wird in unseren ältesten Quellen niemals „Gott“ genannt, doch es wird im Laufe der Jahre in zunehmendem Maße üblich, ihm Gottheit zuzuschreiben.15
In der römischen Welt des späten ersten Jahrhunderts war es nicht ungewöhnlich, Göttlichkeit einem außergewöhnlichen Menschen zuzuschreiben. Kaiser wie Augustus wurden „göttlicher Retter“ oder „Herr und Gott“ genannt. Ferner glaubten Juden ebenso wie heidnische Polytheisten, daß es außer Gott dem Schöpfer noch viele übernatürliche Wesen gab. Daher war es für zu Christen gewordene Heiden leicht, den Menschen Jesus in einen Gott zu verwandeln, dem Anbetung gebühre. Diese Vergöttlichung Jesu war in der Mitte des zweiten Jahrhunderts weitverbreitet.16
Die jüdische Theologie hat niemals daran geglaubt, daß der Messias ein inkarnierter Jahwe sein könnte.17 In den meisten Fällen erwarteten die Juden ein menschliches Wesen, das Träger der messianischen Funktion sein sollte. Der Messias werde ein Nachkomme von König David sein oder ein Priester oder ein militärischer Held, der das Gelobte Land befreit. Trotzdem kann im jüdischen Messianismus der Gesalbte gelegentlich als ein übernatürliches Wesen gedacht werden: ein endzeitlicher Menschensohn oder ein engelhafter Befreier. Doch selbst in diesen Fällen wurde eine klare Unterscheidung zwischen Gott selbst und der für Ihn handelnden Erlöserfigur, dem Messias, gemacht.
Wenn Jesus Mensch ist, inwiefern ist er dann einzigartig? Er war außerordentlich, weil Gott ihn zum Messias salbte. Dies war das älteste Glaubensbekenntnis der Christenheit. Doch für Juden und jüdische Christen war die Messianität eher eine funktionale als eine ontologische Rolle. Lediglich die Berufung des Messias war sehr speziell: Gott salbte ihn, um die göttliche Abstammung des Menschen wiederherzustellen und das himmlische Königtum auf die Erde zu bringen.
Später, unter Heidenchristen, wurde der messianische Titel bedeutungslos, oder er übermittelte eine gefährlich mißverständliche Botschaft. Jene waren einfach nicht an einem davidischen Messias interessiert und wünschten nicht, in eine messianische Bewegung verwickelt zu werden, die Judäa von römischer Herrschaft befreien sollte. Folglich wurde Jesus in den heidenchristlichen Kirchen sehr früh als Sohn Gottes bezeichnet.
Jesus war „sündenlos“, nicht weil er von Natur anders als die anderen Menschen war, sondern weil er niemals von dem gottgewollten Weg abwich. Was immer er also an Einmaligkeit besaß, war letztlich abgeleitet von dem, was Gott durch ihn zu tun versuchte. Die Vereinigungskirche stimmt mit den Bibelexegeten überein, die verneinen, daß Jesus von sich selbst als „dem messianischen Leidensknecht“ dachte. Die Christen interpretierten die jüdische eschatologische Hoffnung neu, nachdem ihr Messias Jesus hingerichtet worden war, Jesaja 53 und Psalm 22 wurden zu alttestamentlichen Beweistexten, die zeigen sollten, daß Jesu Tod die Prophezeiungen erfüllte.
Glaubten die Menschen der apostolischen Zeit, daß Jesu Tod am Kreuz die totale Rettung des Menschen brächte? Keineswegs! Die frühesten neutestamentlichen Zeugen erklären, daß das Kreuz nur ein Vorspiel zur machtvollen Ankunft des messianischen Zeitalters sei. Das apostolische Christentum ist keine Religion des gekreuzigten Jesus, sondern die Verkündigung des kommenden Reiches Gottes.
Warum übte Jesus Christus einen derart mächtigen Einfluß auf die Geschichte aus? Weil, wie eine frühchristliche Hymne es aus drückt, Jesus der neue Adam war, der nach Gottes Bild geschaffen war. Doch anders als sein Vorgänger erniedrigte der zweite Adam sich selbst und wurde Gottes gehorsamer Diener, bis hin zum Tod am Kreuz (Phil 2,5-11). Vom Anfang bis zum Ende hat sich Jesus dem kommenden Reich Gottes gewidmet.
Die Vereinigungstheologie steht den neuen Theologen sehr nahe, außer in einem Punkt. Doch dieser Unterschied leitet sich von der paulinischen Vorstellung des zweiten Adam her. Adam sollte sich selbst vervollkommnen, indem er Geist und Körper in volle harmonische Einheit mit Gottes Herz brachte, um so das Ideal der Schöpfung zu verkörpern. Paulus nennt solch eine Person einen Tempel Gottes (1 Kor 3,16). Die Väter der orthodoxen Kirche des Ostens wie Athanasius, Gregor von Nyssa und Cyril von Alexandrien bezeichnen solch einen Vollkommenheitszustand als Vergöttlichung. Sie lehren, daß das Göttliche menschlich wurde, damit das Menschliche göttlich werde. Protestantische Theologen wie Ritschl vertreten die Ansicht, daß Jesus aufgrund seiner Messianität den Wert Gottes für diejenigen besaß, die ihm folgten. Ähnlich lehren die „Göttlichen Prinzipien": „Der Mensch, der das Ziel der Schöpfung erreichte, würde den göttlichen Wert Gottes annehmen.“18
Gottes ursprüngliches Ziel mit dem Menschen war die Verleihung
der drei Segen: Seid fruchtbar, mehret euch und übt Hoheit über
die Schöpfung aus (Gen 1,28). Nach Erlangung individueller Vollkommenheit
(Fruchtbarkeit), sollte Adam mit Gottes Segen Eva heiraten und Nachkommen
hervorbringen (sich mehren) womit er eine fundamentale Vier-Positionen-Grundlage
auf der Familienebene geschaffen hätte. Auf dieser Grundlage hätten
Adam und Eva den dritten Segen empfangen (Hoheit ausüben). Herr der
ganzen Schöpfung und wahre Eltern der Menschheit werden können.
Als der zweite Adam sollte Jesus diese Aufgabe erfüllen. Der Messias
muß eine neue Familie Gottes ins Leben rufen.
Wegen Adams Fall mußte Jesus Satan besiegen, indem er die Wurzel
der ursprünglichen Sünde ausmerzte, bevor er die zweite Segnung
empfangen konnte. Doch Umstände, die er nicht beeinflussen konnte,
machten es ihm unmöglich, seine Sendung zu vollenden. Worauf die Juden
immer hinwiesen: das messianische Zeitalter kam nie. Oder, wie konservative
Protestanten glauben: das Reich Gottes wird kommen, wenn die Wiederkunft
stattfindet. Doch durch sein Wirken und seine Auferstehung legte Jesus
eine geistige Grundlage für das fortgesetzte Werk Gottes durch die
christliche Kirche.
Seine messianische Berufung
Wann erwählte Gott Jesus von Nazareth zum Messias? Die neustestamentlichen Autoren beantworten diese Frage auf verschiedene Weise. Die älteste Christologie findet sich bei Paulus sowie in den Reden, die Lukas in die Apostelgeschichte einfügt: Rom 1,4; Apg 2,32.36; 13,32fund Phil 2.8-11. Wie der Römerbrief ausführt, wurde Jesus in einem großartigen Geschehen, bei dem er von den Toten auferstand, zum Sohn Gottes deklariert (1,4). Markus aber scheint den Beginn von Jesu messianischem Bewußtsein mit der Taufe zu verbinden. Mit der Erscheinung des Heiligen Geistes wurde Jesus zum eingeborenen Sohn Gottes (Mk 1. 10f). Matthäus und Lukas verlegen diese Idee weiter zurück: Jesus ist der Sohn des Höchsten, weil der Heilige Geist für Marias Schwangerschaft verantwortlich war (Lk 1.32ff). Was das vierte Evangelium angeht, so nimmt dieses an, daß Jesus eine Inkarnation des präexistenten Logos sei, der zu Beginn der Schöpfung bei Gott war (Joh 1.1-3).19
Nach der Vereinigungstheologie muß Jesus ein wachsendes Bewußtsein seiner wahren Berufung schon vor der Taufe gehabt haben. Es muß für ihn eine Art direkter Begegnung mit Gott gegeben haben, eine spezifische Berufungserfahrung. Doch das Neue Testament gibt in dieser Hinsicht keine Information. Als ein tief religiöses Kind und ein sehr sensitiver Jugendlicher dachte Jesus viel darüber nach, wie die Träume des Volkes verwirklicht werden könnten. Er erwog auch, wie er Gott bei der Heraufführung des messianischen Zeitalters dienen könnte. Vielleicht ist es das, was Lukas meint, wenn er vom Zunehmen Jesu an Weisheit und Alter spricht, und daß er bei Gott und den Menschen Gefallen fand (Lk 2,52).
Worin bestand dann die Bedeutung der Taufe durch Johannes? Nicht etwa, daß Jesus das Bedürfnis gefühlt hätte, daß seine Sünden weggewaschen werden müßten. Vielmehr wollte er sich öffentlich mit dieser neuen Bewegung für nationale Umkehr und Erneuerung identifizieren. Jesus fühlte, daß das Werk des Johannes der erste Schritt zur Aufrichtung des Reiches Gottes sein könnte. Mit Johannes’ Hilfe hätte Jesu eigene messianische Berufung eine Chance gehabt.
Noch bedeutsamer: Die Taufe Jesu versinnbildlicht das Ende des Alten Testamentes und die Geburt des neutestamentlichen Zeitalters. In Jesu Augen war Johannes der letzte der Propheten und der Höhepunkt der Vorbereitung des auserwählten Volkes für den Tag des Herrn. Die Funktion des Täufers bestand in der Verkündigung der Ankunft der Letzten Tage. Daher erbte Jesus durch den symbolischen Ritus der Taufe die alttestamentliche Dispensation als Grundlage für seine neue und größere Sendung.
Die Stammbäume Jesu
Die Vereinigungstheologie stimmt mit Matthäus und Lukas überein, daß Jesu messianische Rolle eng mit dem Erbe seiner Ahnen verbunden ist. Beide synoptischen Autoren betonen, wenngleich auf sehr verschiedene Weise, daß Gott schon viele Jahrhunderte vor Jesu Geburt die Ankunft des Messias vorbereitet hat. Die zwei neutestamentlichen Genealogien zeigen, wie sorgfältig Gott die geistige Grundlage für die messianische Sendung Jesu schuf.
Leider sind viele Exegeten für die zentrale Botschaft dieser evangelischen Genealogien blind. Sie stellen entweder Fragen zur historischen Zuverlässigkeit der beiden Stammbäume oder konzentrieren sich auf die lehrhaften und apologetischen Ziele der Texte. Doch was war die zentrale Absicht bei der Aufnahme eines Familienstammbaumes ins Evangelium? Matthäus und Lukas wollten die Messiasansprüche zu Jesu Gunsten legitimieren. Daher verfolgt Matthäus die Ahnentafel des Messias bis zu König David und den Patriarchen Abraham zurück, während Lukas sogar noch weiter zurückgeht bis hin zu Adam, dem ersten Sohn Gottes.20
Doch eine ebenso wichtige Absicht hinter den Stammbäumen liegt darin, zu zeigen, wie alle hebräische Geschichte und sogar die ganze Geschichte der Menschheit seit Adam und Eva auf die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden hinzielten. Indem sie mystische Symbole auf der Basis der Zahlen Sieben (Lukas) oder Vierzehn (Matthäus) benutzten, wollten die Evangelisten andeuten, daß der geheime Schlüssel zur Geschichte in der messianischen Hoffnung zu finden sei. Seit dem Fall Adams und Evas, so erzählt Lukas, plante Gott stets die Wiederherstellung der Menschheit. Oder wie Matthäus es faßt: Das ganze Ziel der Jüdischen Geschichte ist es, einen messianischen Erlöser hervorzubringen.
Anders als Lukas nennt Matthäus unter den Ahnen Jesu die Namen von vier Frauen: Tamar, Rahab, Ruth und Batscheba, die Frau des Hetiters Uria. Gewöhnlich werden in einer Gesellschaft, die so streng patriarchalisch ist wie die des alten Israel, nur Männer in einem Familienstammbaum aufgeführt. Warum hielt der Evangelist es dann für angebracht, diese Frauen besonders zu erwähnen? Um diese Frage zu beantworten, muß man sich klar machen, was ihnen gemeinsam war. Zunächst waren Tamar, Rahab, Ruth und Batscheba wegen ihrer sexuellen Immoralität verrufen. Tamar verhielt sich wie eine Prostituierte, um von ihrem Schwiegervater schwanger zu werden (Gen 38,26). Rahab war eine Dirne in Jericho, die den Israeliten half, ihre Stadt zu erobern (Jos 2,1-11). Ruth lud Boas ein, bei ihr zu liegen (Ruth 3,6-9), und Batscheba beging mit König David Ehebruch (2 Sam 11,4). Bedeutet dies nicht, daß es auch um Jesu Geburt eine sexuelle Unregelmäßigkeit geben werde?21 Zweitens waren alle vier Frauen Heidinnen: Rahab und wahrscheinlich auch Tamar waren Kanaaniterinnen; Ruth war eine Moabiterin, und Batscheba war wohl eine Hetiterin. Daher war Luther der Ansicht, daß Matthäus die Namen dieser Frauen aufnahm, um zu zeigen, daß Jesus der Retter der ganzen Menschheit und nicht nur ein Messias der Juden war. Drittens waren alle vier ziemlich außergewöhnliche Instrumente der Vorsehung Gottes: Tamar hatte es gewagt, den sozialen Anstand zu verletzen, um die Blutslinie ihres verstorbenen Mannes fortzusetzen. Rahab ermöglichte den Israeliten, ins Gelobte Land einzuziehen. Ruth hatte die Initiative zu einer ehelichen Gemeinschaft ergriffen, die schließlich König David hervorbrachte. Und Batschebas Ehebruch führte zur Geburt des Salomon. Infolgedessen wurden diese vier Frauen in der nach-biblischen jüdischen Frömmigkeit als Beispiele gepriesen, wie Gott sich unerwarteter und unkonventioneller Mittel bedienen kann, um Seine Pläne der Vorsehung auszuführen.22
Die Jungfrauengeburt
Sowohl Lukas als auch Matthäus folgen in ihren Stammbäumen der Abstammungslinie des Josef. Fast kein moderner Exeget versucht, die Differenzen zwischen diesen beiden Genealogien durch die Annahme zu lösen, daß einer der Stammbäume zu Maria gehöre.23 Wenn jedoch Jesus nicht der wirkliche Sohn Josefs wäre, welcher Wert bestünde dann darin, Josefs Abstammungslinie auf David, Abraham oder Adam zurückzuführen? Dies ruft die Frage hervor, wie wichtig das Konzept der Jungfrauengeburt für das messianische Werk Jesu ist. Ist es ein wesentliches Dogma des christlichen Glaubens, daß Jesus keinen leiblichen Vater hatte? Welcher theologische Wert wird der Jungfrau Maria zugesprochen?24
Alle alten Glaubensbekenntnisse bekräftigen die Jungfräulichkeit Mariens. Doch diese Einstimmigkeit trifft nicht für das Neue Testament zu. Nur Matthäus und Lukas bringen Kindheitsgeschichten von Jesus, Markus, Johannes und Paulus erwähnen mit keinem Wort die Vorstellung, daß Maria ohne Vereinigung mit einem Mann ihren Sohn geboren habe. Paulus nimmt zweimal sehr vagen Bezug auf Jesu Geburt. Im Galaterbrief schreibt er, daß „Gott Seinen Sohn sandte, von einer Frau geboren" (4.4f), und im Römerbrief spricht er von Jesus als „geboren aus dem Samen Davids" (l ,3). Diese Stellen sind nicht zur Untermauerung der jungfräuliche Geburt geeignet. Was Markus und Johannes angeht, so zeigen diese Evangelien so wenig Interesse an der Geburt Jesu, daß Markus den Namen Josef nicht einmal erwähnt und Johannes uns nicht den Namen der Mutter Jesu mitteilt. Wegen dieses verlegenen Schwelgens über Marias Jungfräulichkeit im größten Teil des Neuen Testamentes bezweifelt ein zeitgenössischer katholischer Exeget, daß die Geschichte von der jungfräulichen Geburt den Aposteln von der Familie Jesu übermittelt wurde. Abgesehen von den Einleitungskapiteln bei Matthäus und Lukas kommt die jungfräuliche Geburt in den Berichten über Jesu reifes Leben, seine Wirksamkeit, seinen Tod und seine Auferstehung überhaupt nicht vor.25
Ferner könnte der Gedanke an Marias Jungfräulichkeit etwas mit einer falschen Übersetzung eines messianischen Textes bei Jesaja zu tun haben. Die hebräische Version von Jesaja 7,14 lautet, daß ein „junges Mädchen“ einen Sohn gebären und ihn Emmanuel nennen werde. Doch die griechische Septuaginta-Übersetzung lautet, daß „eine Jungfrau ein Kind haben wird, das man Emmanuel nennen wird“. Da Matthäus glaubte, daß Jesus der Messais war, dessen Kommen genau in den Schriften vorhergesagt worden war, folgerte er, daß Jesus von einer Jungfrau geboren sein müsse.
Einige Wissenschaftler betonen, daß die Kindheitsgeschichten in der palästinischen Umgebung ihren Ursprung hatten, und daß schon vor der Wirksamkeit Jesu hellenistische Juden glaubten, der Messias müsse von einer Jungfrau geboren werden.26 Andere vertreten die Ansicht, daß die Lehre von der Jungfrauengeburt ein Produkt des heidnischen Christentums war. In der hellenistischen Welt war die Behauptung gängig, daß ein berühmter Mann der Sohn eines Gottes war, zum Beispiel Platon, Alexander der Große oder Julius Caesar.
Abgesehen von der fraglichen Geschichtlichkeit der Jungfrauengeburt hat diese Lehre tiefe theologische Auswirkungen gezeitigt. Einmal, weil eine jungfräuliche Geburt der einzige Weg für den Christen wäre, von der ursprünglichen Sünde befreit zu sein. Um die Menschheit zu erlösen hätte, Jesus Christus einfach eine „ungefallene" menschliche Natur besitzen müssen. Weil er von der Jungfrau Maria geboren wurde, war sein Fleisch unbefleckt, so daß er als unser Erlöser dienen konnte.
Solche eine Sicht wird heute jedoch weithin in Frage gestellt. In der antiken Welt wurde angenommen, der Mann allein produziere das Kind und die Frau diene ihm lediglich als ein Gefäß, worin das Baby getragen werde. Die moderne Wissenschaft hat erwiesen, daß beide Eltern die physische und psychische Anlage ihres Kindes bestimmen. Da sowohl Vater wie Mutter irgendwelche biologische Wirkungen der ursprünglichen Sünde übertragen würden, würde es Jesus nicht sündenlos machen, ihn eines menschlichen Vaters zu berauben. Und höchst wichtig: Heutige Christen würden die Vorstellung in Frage stellen, daß sexueller Verkehr im eigentlichen Sinn sündig sei.
Eine zweite theologische Rechtfertigung der jungfräulichen Geburt wurde von Barth vertreten.27 Die Jungfrauengeburt zeige, daß Gott uns ganz von Sich her versöhne. Unsere Rettung komme vollständig von Gott. Erlösung sei allein Sein Werk. Wir seien in keiner Weise Seine Partner.
Doch diese Verteidigung der Jungfrauengeburt leidet an schweren Defiziten. Die biblische Vorstellung von Erlösung beruht auf einer Bundesbeziehung zwischen Gott und Mensch. Erlösung erfordert einen Prozeß des gegenseitigen Gebens und Nehmens, um die Sprache der „Göttlichen Prinzipien" zu verwenden. Wie Brunner wiederholt Barth verständlich machen wollte, kann Wiederversöhnung niemals einseitig sein. Gottes Initiative muß von einer angemessenen menschlichen Antwort ergänzt werden.
William Barlay stellt fest, daß Christen die Geschichte von der Jungfrauengeburt nicht wörtlich zu nehmen brauchen.28 Die Kindheitserzählungen drückten vielleicht auf liebliche, poetische Weise aus, daß - selbst wenn Jesus einen menschlichen Vater hatte - der Heilige Geist Gottes in einer besonderen Weise bei seiner Geburt wirksam war. Wie die alten Juden zu lehren pflegten: Um ein Kind hervorzubringen, braucht es drei Partner: Vater, Mutter und Gott.29
War Josef also der Vater Jesu? Wenn ja, warum war es nötig, die Legende von einer Jungfrauengeburt zusammenzubrauen? Das Judentum erwartete keinen jungfräulich geborenen Messias. Nach Strack-Billerbeck30 stellt diese Annahme sogar eine „absolute Neuheit“ für jüdisches Denken dar. Doch Pater Brown zeigt auf, daß mit Ausnahme der Eboniten die Christen allgemein darüber einig waren, Josef sei in keiner Weise an der Empfängnis Jesu beteiligt gewesen. So kann man nur annehmen, daß jemand anderer verantwortlich war. Von ziemlich frühen Zeiten an vertraten jüdische Kritiker des Christentums die Meinung, Maria habe eine illegitime Affäre mit einem römischen Soldaten namens Pandera gehabt. Solche Behauptungen scheinen viel später als die neutestamentlichen Erzählungen ausgedacht worden zu sein, um die christliche Lehre zu widerlegen.
Eine bessere Erklärung ist von Dr. Leslie Weatherhead geboten worden, dem langjährigen Geistlichen am City Temple in London.31 Im ganzen alten Nahen Osten (und in Indien) wurde oft die Zeremonie einer „heiligen Hochzeit" durchgeführt, in welcher entweder der Hohepriester oder der König die Rolle des göttlichen Boten spielten. Während dieser Riten wurde er mit einer Jungfrau verheiratet, was die heilige Vereinigung des Sonnengottes und der Erdgöttin symbolisierte. Der Nachkomme solch einer Begattung wurde als eine göttliche Inkarnation angesehen.
Nun war Zacharias der diensttuende Priester im Tempel, als Maria eine mystische Erfahrung hatte, bei der sie einwilligte, „die Magd des Herrn“ zu sein. Obgleich ein älterer Mann, war Zacharias nicht impotent, denn er hatte soeben seine Frau Elisabeth geschwängert, die selber jenseits des normalen gebärfähigen Alters war.
Als der Engel Gabriel Maria ankündigte, daß sie dem Messias das Leben schenken werde, antwortete sie: „Wie kann dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne?" Da sagte ihr der Engel, daß der Heilige Geist über sie kommen werde und die Kraft des Allerhöchsten sie überschatten werde (Lk 1,35).
Sobald das junge Mädchen gehört hatte, sie sei erwählt, dem Sohn Gottes das Leben zu schenken, „machte sie sich eilends auf und trat in, das Haus des Zacharias“ (Lk l, 39). Indem sie sich dem betagten Priester hingab, sollte Maria beweisen, daß sie wirklich eine Dienstmagd des Herrn war. Solch ein Akt totaler Auslieferung, weit entfernt, in der antiken Welt als unmoralisch betrachtet zu werden, bewies den höchsten Grad geistiger Hingabe. Indem sich Maria mit dem Priester vereinigte, „fand sie Gnade bei Gott“ (Lk 1.39). Dr. Weatherhead zieht den Schluß, daß - wenn man die Hypothese der Jungfrauengeburt zurückweist - die Vereinigung des Priesters Zacharias mit dem völlig ergebenen jungen Mädchen Maria in der Art der traditionellen heiligen Hochzeitsriten eine Lösung bietet, die mit Hinweisen der Heiligen Schrift zusammenpaßt.3"
Im Neuen Testament ist die Lehre vom Heiligen Geist eng mit der Christologie verbunden. Als Maria ihr Kind empfängt, kommt der Heilige Geist über sie und überschattet sie. Der Geist schwebt über Jesus und erleuchtet ihn bei seiner Taufe. In seiner ersten Predigt zu Nazareth definiert er seine messianische Sendung mit den alttestamentlichen Worten: „Der Geist des Herrn ist über mir...“(Lk 4.18). Dieser Geist wohnt ständig in Jesus und ermöglicht es ihm, mit Autorität zu sprechen. Krankheiten zu heilen und Dämonen auszutreiben.
Neben der Vereinigung Jesu als Sohn mit Gott dem Vater ist es das Ziel des Geistes, alle Menschen mit Gott zu vereinen. Der Geist lehrt uns, führt uns, hilft uns, Zeugen zu sein, und dient uns als Tröster, Verteidiger und Ratgeber. Daher nennt Paulus die christliche Jüngerschaft „ein Leben aus dem Geiste“ oder „dem Geiste folgen“ (Gal 5,25). Gläubige werden die Gaben des Geistes zeigen: „Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Milde, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung“ (Gal 5,22 f). Indem er Dinge des Geistes sät, kann ein Christ die Frucht ewigen Lebens ernten (Gal 6,8). Mit anderen Worten, der Heilige Geist bedeutet die regenerierende und erlösende Wirkung des innewohnenden Gottes.
Als Zeichen Gottes, das im und durch den Menschen wirkt, ist der Heilige Geist natürlich besonders in der christlichen Gemeinschaft aktiv. Der 2. Korintherbrief spricht über die „Diener des Neuen Bundes, der nicht ein Bund des Buchstabens, sondern des Geistes" ist (3,6). Christliche Predigt und Lehre werden als Gaben des Geistes betrachtet (Gal 5,22f). Als das erste Apostelkonzil zusammenkam, um christlichen Glauben und christliche Praxis zu klären, gaben die Beteiligten einen Bericht mit den Anfangsworten „dem Heiligen Geiste und uns hat es gefallen...“ (Apg 15, 28) und brachten so zum Ausdruck, daß Lehrentscheidungen das Resultat kooperativer Beratung der Christen mit dem Geiste darstellen sollten.
Laut der Apostelgeschichte wurde die Kirche zu Pfingsten geboren, als die versammelten Christen mit charismatischen Gaben überschüttet wurden. Wie Lukas dieses Ereignis interpretiert, stieg der Geist unerwartet über die ganze Versammlung herab. Unter anderem zeigt Pfingsten, wie der Geist für die Einheit wirkt. Durch die Sprachengabe war die christliche Gemeinschaft imstande, Männer und Frauen trotz der nationalen, rassischen und sprachlichen Unterschiede zu einen.
Durch die Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist wird die Kirche gekräftigt, erleuchtet und gesegnet. Doch die göttliche Aktivität des Geistes bei der Neubelebung und Erneuerung kann nicht auf die institutionellen Kirchen beschränkt werden. „Der Wind (des Geistes) weht“, wie wir lesen, „wo er will...und man weiß nicht, woher er kommt und wohin er geht" (Joh 3,8). Der Geist ist nicht ein Diener der Kirche, vielmehr sollte die Kirche eine Dienerin des Geistes sein. Der Geist weist über die Kirchen hinaus auf das kommende Reich Gottes. Nur indem sie als Träger der Transformation der ganzen Welt dienen, können sich Christen als Glieder des Leibes Christi betrachten. Das Werk des Geistes besteht letztlich darin, alle Völker in einer neuen Schöpfung zu einen. Als daher der heilige Johannes auf Patmos in einer prophetischen Trance fortgetragen wurde, hörte er den auferstandenen Jesus ankündigen: „Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist zu den Kirchen spricht“ (Offb 2,7).
Das Wichtigste: Der Geist dient als Organ der Weitergabe der göttlichen Offenbarung. Im Alten Testament zum Beispiel erklärte der Prophet Jeremia: „Das Wort des Herrn erging an mich..." (1, 11). Ähnlich empfängt Petrus in der Apostelgeschichte eine Vision, die ihm zeigte, daß Christen nicht die Speiseregeln der Thora weiter befolgen müssen. In beiden Fällen vermittelte eine geistige Erfahrung eine neue Offenbarung, welche die heiligen Schriften ihrer Zeit ergänzte, klärte und korrigierte. So nennt das vierte Evangelium den Heiligen Geist „den Geist der Wahrheit", der Dinge enthüllen wird, welche die ersten Jünger weder verstanden noch verstehen konnten, als Jesus auf Erden weilte. Der Geist autorisiert fortdauernde Offenbarung.
Schließlich nahm die jüdische wie die christliche apokalyptische Tradition an, daß die Ankunft des messianischen Zeitalters von einer wunderbaren Ausgießung des Heiligen Geistes begleitet werde. Wie der Prophet Joel voraussagte, wird der Tag des Herrn eingeläutet werden, wenn Gottes Geist über alle Menschheit ausgegossen wird. Die alten Menschen werden Wahrsagungsträume und die Jungen Visionen haben (2,28f).
Nachdem wir gesehen haben, wie unterschiedlich der biblische Wortgebrauch vom „Heiligen Geist" ist, läßt sich leicht verstehen, warum keine offizielle Lehre allgemeine Zustimmung erlangte. Wer oder was ist denn der Heilige Geist, der Geist des Herrn, der Geist Gottes und der Geist Christi? In der frühen Kirche waren drei Fragen besonders verwirrend. Erstens: Ist der Heilige Geist eine Person, eine selbstbewußte Wesenheit, die von Gott dem Vater oder von Jesus Christus dem Sohn verschieden ist? Zweitens: Wenn der Geist ein unterschiedenes Wesen ist, ist er dann männlich, weiblich oder neutral? Drittens: Ist der Geist als unterschiedenes Wesen Gott gleich oder Gott, dem Vater und Christus, dem Sohn, untergeordnet?
Wir wollen betrachten, wie die Diskussion über das Geschlecht des Geistes aufkam. Das hebräische Wort für Geist (mach) ist weiblich, während das griechische Wort (pneuma) neutrum ist. Ferner wird im Alten Testament die Weisheit Gottes (Sophia) als ein weiblicher Geist dargestellt (Sprüche. Kapitel 8 und 9). Im Evangelium des Johannes schließlich dient der Heilige Geist, von Jesus seinen Jüngern versprochen, den Christen, deren Glaube durch die fortgesetzte Verzögerung der Wiederkunft wie durch die starke Verfolgung bedroht wird, in der weiblichen Rolle des Tröstens und Stärkens.
Es ist klar ersichtlich, daß manche frühe Christen glaubten, der Heilige Geist sei eine weibliche Wesenheit. Das Nazarenerevangelium enthält ein Wort Jesu, worin er von „meiner Mutter, dem Heiligen Geiste" spricht. Die Thomasakten enthalten Hymnen und liturgische Gebete der Anrufung des Heiligen Geistes, der als „die mitleidsvolle Mutter...die Frau, die verborgene Weisheiten enthüllt... und die Liebste des mitfühlenden Höchsten" angesprochen wird. Im Evangelium des Mani finden wir eine trinitarische Doxologie, welche die Macht des Vaters, die Segnungen der Mutter und die Güte des Sohnes preist.33
Russisch orthodoxe Christen haben den Heiligen Geist lange als Sophia, als weibliche Kraft der Weisheit und Gnade verehrt. Wladimir Solowjew, der mystische Philosoph des späten 19. Jahrhunderts erlebte wiederholt Visionen der Sophia als einer attraktiven jungen Frau. Sein Schüler Bulgakow arbeitete dann eine ganze Theologie der Sophiologie aus.34
Nichtsdestoweniger betrachteten die meisten Christen den Heiligen Geist als eine unterschiedene männliche Wesenheit. Der Ausdruck „Parakletos“, der im Johannesevangelium gebraucht wird, meint „Tröster" und ist männlichen Geschlechts. Auch war die jüdische Tradition extrem maskulin-orientiert und allen weiblichen Definitionen der Gottheit feindlich. Infolgedessen legten die Konzilien von Nizäa und Chalkedon fest, daß Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist unterschieden, aber gleich, eines Wesens und alle gleichen Geschlechtes seien.
In der Vereinigungstheologie ist der Hauptpunkt der, daß der Heilige Geist kein unterschiedenes Wesen ist, kein von Gott, dem Vater, unterschiedenes Sein hat. Der Heilige Geist stellt einfach Gottes erlösende Wirksamkeit dar. So wird in der Genesis der Geist als Atem Gottes angesprochen: Gott der Herr hauchte seinen Geist in Adam und machte ihn so zu einer lebenden Seele. Ähnlich wird im Johannesevangelium der Geist Wind genannt, der von einer Richtung in die andere weht und kommt und geht, wohin er will. Der gewöhnliche neutestamentliche Ausdruck „pneuma" meint einfach „Luft" oder „Wind“, eine unpersönliche Energie, die von Gott ausgeht. Somit versteht die Vereinigungstheologie den Heiligen Geist nicht als eine individuelle Person, sondern vielmehr als ein Zeichen der Wirkens Gottes in der Geschichte und Seines direkten Einflusses auf unser individuelles Leben.
Nach den „Göttlichen Prinzipien“38 ist auch Gott ein polares Wesen. In diesem Sinne ist es legitim, wenn man sich auf die weibliche Aktivität des Heiligen Geistes bezieht. 24 Wenn der Geist die mütterlichen Funktionen des Tröstens, Nährens und des Erziehens der einzelnen Christen ausübt, dient er als Mutter-Geist. Wie Macquarrie darlegt, führt der Heilige Geist ganz klar ein weibliches Element in die Gotteslehre ein. Wenn beschrieben wird, wie der Geist Gottes über den Wassern der Tiefe schwebt (Gen 1,2). wie er wie eine Henne über ihrem Nest brütet, so daß Gott die Welt gebiert, so legt dies klar ein weibliches Prinzip nahe.36 Doch gleichzeitig manifestiert der Heilige Geist, da Gottes Kraft am Werke ist, männliche Qualitäten. Zusammenfassend läßt sich sagen: Verschiedentlich erscheint Gottes Geist als weiblich, männlich oder apersonal.
Die Vereinigungstheologie betont auch die Vielfalt der Geister, die unsere Welt und das menschliche Schicksal beeinflussen. Neben dem Geist des Vaters und dem Geist des Sohnes existiert eine Vielfalt von wohlwollenden Ahnengeistern und Engeln, die Kontakt zur Erde haben und versuchen, das Leben der Menschen zu lenken. Besonders in einem entscheidenden Moment in Gottes heilsgeschichtlichem Plan steigt das ganze himmlische Heer auf unsere irdische Ebene, um Gottes Vorhaben zu verwirklichen. Darum waren die Christen zu Pfingsten plötzlich fähig, in fremden Zungen zu reden. Es halfen ihnen nicht-inkarnierte Geister, die Gottes Vorsehungsabsicht zu verwirklichen suchten. Wenn sich also der Heilige Geist auf das Wirken des transzendenten Gottes innerhalb der Geschichte und im Innern der menschlichen Seele bezieht, kann diese helfende und führende Wirkung eher von zahlreichen Ahnen oder Engelsboten ausgeübt werden, als dadurch, daß sich dieser helfende Geist auf eine einzige Wirkkraft begrenzt. Wie Gott selbst ist der Geist unsichtbar und unkörperlich - sozusagen ein helles Licht oder ein Feld magnetischer Energie. Wenn daher der Heilige Geist einer bestimmten Form bedarf, bedient er sich eines nicht-inkamierten menschlichen Geistes oder eines Engels als Medium. Es sollte hiermit deutlich geworden sein, daß der Ausdruck „Heiliger Geist" ziemlich allgemein gebraucht wurde, um alle Arten des Wirkens von Geistern zu benennen.
Die klassische Formulierung des trinitarischen Dogmas wurde von den ökumenischen Konzilien des vierten Jahrhunderts vorgelegt und wurde für die römisch-katholische, die östlich-orthodoxe, die anglikanische, die lutherische und die reformierte Kirche normativ. Dieses Glaubensbekenntnis lautet:
„Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt. Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater: durch ihn ist alles geschaffen.
Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel
Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Totem seiner Herrschaft wird kein Ende sein.
Ich glaube an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater (und dem Sohn) hervorgeht, der mit dem Vater zugleich angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten..37
Dieses ökumenische Credo wurde, obwohl es noch weithin in Gottesdiensten verwendet wird, wiederholt kritisiert, und dies aus mehreren Gründen. Einmal ist es nicht wirklich biblisch, weil es weit über den Glauben des Neuen Testamentes hinausgeht und die auf das Reich Gottes zentrierte Lehre Jesu entstellt. Zweitens stellt es eine Vermischung jüdisch-christlichen Glaubens mit der hellenistischen Philosophie der antiken Welt dar. Drittens hat es die Christen stets eher getrennt als in der Verehrung des einen Gottes, des einen Herrn und des einen Glaubens geeint. Als Ergebnis der trinitarischen Kontroversen des patristischen Zeitalters war die Kirche in athanasische und arianische Christen, in Nestorianer und Monophysiten, chalzedonische und nicht-chalzedonische Kirchen geteilt.
Ist das trinitarische Credo biblisch? Norman Pittenger, anglikanischer Theologe in Cambridge, faßt die Schlußfolgerungen der zeitgenössischen Bibelstudien ziemlich gut zusammen.38 Das Wort „Trinität" (trias) kann im Neuen Testament nicht gefunden werden und wurde von Christen vor Theophilus von Antiochien (etwa 180 n. Chr.) nicht gebraucht. Die einzige trinitarische Formel in den synoptischen Evangelien (Mt 28,19) beansprucht nicht, eine Aussage des historischen Jesus zu sein; sie stellt eine Ergänzung der frühen Kirche nach seinem Tode dar. Ähnlich wurden auch die zahlreichen Bezüge des vierten Evangeliums auf Vater, Sohn und Heiligen Geist nicht von Jesus gesprochen, sondern zeigen die nachapostolische Theologie des Autors. Paulus spricht oft von Jesus als dem Sohn Gottes und vom Heiligen Geist als von Gott gesandt. Er gebraucht mindestens zweimal triadische Formeln (l Kor 12,4-6: 2 Kor 13,14), doch keine von diesen meint die ausdrückliche Dreifaltigkeitslehre des ökumenischen Credos, so Pittenger.
Was lehrt das Neue Testament bezüglich Vater, Sohn und Heiligem Geist? Es bekräftigt klar die Existenz des einen Gottes, denn dieser Glaube war zentral für das Judentum. Weiterhin versichert das Neue Testament, daß Gott in Christus war, um die Welt mit sich selbst zu versöhnen. Wir finden darin nicht „den Mythos vom inkarnierten Gott“. Was die älteste und am meisten authentische Tradition im Neuen Testament lehrt, ist, daß Jesus der gesalbte Vertreter Gottes war, dessen Sendung darin bestand, das messianische Zeitalter einzuleiten. Obwohl Jesus gekreuzigt wurde, fanden seine Jünger, daß sie durch fortgesetzte Treue zu ihm die Gemeinschaft des Heiligen Geistes erfuhren.
Angesichts der Unangemessenheit der Dreifaltigkeitsformeln des Credos haben Theologen seit mehr als hundert Jahren die klassische Trinitätslehre neu gedeutet. Was bedeutet es, an den dreieinigen Gott zu glauben? Einige würden sagen, Gott habe Sein Wesen und Ziel auf dreifache Weise kundgetan: Er macht Sich bekannt in der Schöpfung und im Prozeß der Geschichte. Er offenbart Sich in Botschaft, Sendung und Wirken Jesu Christi. Er fährt fort, Sein Reich wirksam auf Erden zu verwirklichen. Anders ausgedrückt, wenn Gott Seinen Willen in der messianischen Laufbahn Jesu offenbarte, so war Er aktiv, bevor Jesus geboren wurde, und blieb auch nach dem Kreuzestod aktiv.
Oft wird auch eine andere Erklärung der Dreifaltigkeitslehre vorgelegt. Das trinitarische Dogma erkläre die innere Natur der Gottheit. Gott sei Seinem Wesen nach eine Drei-Einheit. Wie ist Er drei in eins? Wir wollen einige zeitgenössische Erklärungsversuche nennen. Barth lehrte, daß der eine Gott drei „Seinsmodi" habe: Gott als Schöpfer, als Versöhner und als Erlöser. Macquarrie definiert die Dreifaltigkeit als „Momente" innerhalb des dynamischen und doch stabilen Mysteriums des Seins. Der Vater ist ursprüngliches Sein, die Quelle von allem, was Er in die Schöpfung ausströmt. Der Sohn oder Logos ist ausdrückliches Sein, der in der Vielfalt der Formen und Muster des Existierenden offenbarte Gott. Und der Heilige Geist bedeutet vereinigendes Sein. Gottes Aktivität in der Erhaltung, Kräftigung und Wiederherstellung der ganzen Schöpfungseinheit mit Ihm selbst.» Oder, um den Sachverhalt noch einfacher auszudrücken, wie der anglikanische Theologe H.E.W. Turner es tut: Dreifaltigkeit bezieht sich auf den Gott über uns (Vater), Gott mit uns (Sohn) und Gott in uns (Heiliger Geist).40
Wie steht die Vereinigungstheologie zur alten und modernen Trinitätslehre? Wie diese anerkennt sie die dreieinige Natur Gottes als Schöpfer, Erlöser und Inspirator. Wie unsere Erklärung des Schöpfungsprinzips zeigt, glauben die Mitglieder der Vereinigungskirche an den väterlichen Gott, der über uns, mit uns und in uns ist. Es wurde bereits dargelegt, wie die „Göttlichen Prinzipien“ die messianischen Sendung Jesu auffassen. Auch haben wir die Natur und das Werk des Heiligen Geistes behandelt.
Bevor wir schließen, wollen wir ein spezifisches Element der Vereinigungstheologie betrachten. Weil den „Göttlichen Prinzipien" besonders an der Wiederherstellung der göttlichen Souveränität über die Schöpfung gelegen ist, betonen wir die trinitarische Art, nach der das Königtum des Himmels auf der Erde errichtet werden wird. Wenn es keinen Sündenfall gegeben hätte, hätten Adam und Eva das Ziel der Schöpfung durch die Gründung einer Gott-zentrierten Familie verwirklicht. Wiederherstellung kann also stattfinden, wenn eine triadische Beziehung der Liebe und Achtung zwischen einem neuen Adam und einer neuen Eva auf der Grundlage der Gottzentriertheit errichtet wird. In der Wechselbeziehung mit Gott und zwischen ihnen werden sie eine Familie gründen, wahre Eltern werden und die drei Segnungen erfüllen. Gott kann dann durch sie wirken und ein Muster für nachfolgende Familien auf einem Vier-Positionen-Fundament begründen, um Sein Reich auf Erden zu schaffen.
Abschließend kann gesagt werden, daß die Mitglieder der Vereinigungskirche glauben, daß es nur einen Gott gibt. Gott den Vater. Jesus war ein menschlicher Führer, von Gott gesalbt, die messianische Sendung auszuführen und Gottes Herrschaft auf Erden zu verwirklichen. So können wir nicht sagen, daß er Gott gleich sei. Der Heilige Geist ist keine von Gott unterschiedene Wesenheit, sondern vielmehr eine unpersönliche Energie, die von Gott herkommt und die menschlichen Seelen sowie die menschliche Geschichte durchdringt. Als solche wirkt der Heilige Geist als Bote durch viele Medien: Jesus Christus, Engel, Heilige und Weise sowie alle guten Vorfahren. Aus diesen Gründen klärt und korrigiert die Vereinigungslehre der traditionelle Trinitätslehre.
Zum 7. Kapitel Gott handelt in der Geschichte
Anmerkungen
1 Dekret über die missionarische Sendung der Kirche, H. Vaticanum,
l, 3.
2 Donald G. Bloesch, Jesus is Victor (1976),32-7l.
3 K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV/3, erster Halbband (engl.1961),
555f.
4 R. Niebuhr, Natur und Bestimmung des Menschen. Bd. II (engl. 1964),
287-298.
5 Niebuhr. a.a.O. 44f.
6 E. Brunner, Die christliche Lehre von der Schöpfung und Erlösung
(engl. l952),239-378.
7 E. Brunner. Der Mittler (engl. 1947),72-101.
8 E. Brunner. Die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung
(engl.1952),271-307.
9 Brunner, a.a.O. 322ff
10 Brunner. a.a.O. 352-356.
11 Brunner. a.a.O. 371-378.
12 Brunner. a.a.O. 356.
13 D.M. Baillie. God Was in Christ (1955),11.
14 R.E. Brown, Jesus, God and Man (1967), Vorwort, IX.
15 Brown, a.a.O. 31.
16 Brown, a.a.O.
17 Vgl. Genza Vermes, Jesus the Jew (1973).
18 Die Göttlichen Prinzipien (1972). 238.
19 Vgl. H. Küng. Christsein (engl.1976). 384-389.
20 R.E. Brown. The Birth of the Messiah (1977) 57-95.
21 J.A. T. Robinson. The Human Face of God (1973) 59-63; E. Stauffer.
Jesus and His Story (l 960). 25.
22 Brown. a.a.O.. 73f.
23 Lk 3,23.
24 T. Boslooper. The Virgin Birth (1962) und Hans von Campenhausen.
Die Jungfrauengeburt in der Theologie der alten Kirche (engl.1964).
25 Brown. a.a.O. 33,521.
26 E. Schillebeeckx. Jesus (1979). Fußnote 9.
27 K.Barth. „Das Wunder der Weihnacht" in: Kirchliche Dogmatik (engl.).Bd.l,15:3.172-202.
28 Zu den Neutestamentlern, die die Geschichtlichkeit der Erzählung
von der Jungfrauengeburt in Frage stellen, gehören J. Weiss, Harnack,
Bornkamm, Enslin, Kümmel, Conzelmann, von Campenhausen, Boslooper,
Dibelius, Goguel, Goodspeed. Lake, Bacon, Knox, Bultmann, Guignebert, Loisy,
Perrin. Folgende Theologen leugnen geradewegs die Jungfrauengeburt: Tillich,
Brunner, Schubert, Ogden. Pannenberg. Nels F.S. Ferre, Bultmann und J.A.T.
Robinson.
29 W. Barclay, The Gospel of Luke (1956). 7.
30 Strack-Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus den Quellen
von Talmud und Midrasch, (engl.) Bd. 1,49ff.
31 L E. Weatherhead, The Christian Agnostic (l 965). 102-105.
32 Weatherhead, a.a.O.. 102-105: Weatherhead vermutet, daß
trotz der Opposition der Sadduzäer und Pharisäer zu solchen obsolut
gewordenen sexuellen Riten im Tempel von Jerusalem dies im palästinensischen
Hügelland anders gewesen sein kann. Maria fühlte ganz natürlich,
daß die Botschaft des Engels bedeutete, sie sollte sich mit einem
geachteten „heiligen Mann“ vereinigen, um den Messias hervorzubringen.
33 Vgl. die Anthologie von W. Lewis: Witness to the Holy Spirit
(1978).
34 N. Zernov, The Russian Religious Renaissance of the Twentieth
Century (1963). 283-308.
35 Die Göttlichen Prinzipien, 247.
36 J. Macquarrie, Principles of Christian Theology (1977). 329f.
37 Fürs Deutsche zitiert nach der „ökumenischen Übersetzung“
des Schott-Meßbuches.
38 N. Pittenger. The Divine Trinity (1977),21f.
39 J. Macquarrie. Principles of Christian Theology (l 977), 190-210.
40 H.E.W. Turner, Dictionary of Christian Theology (1969) 345.