V. JESUS: SENDUNG UND SCHICKSAL

DIE GESTALT JESU IN DEN GLAUBENSBEKENNTNISSEN

Überraschenderweise haben die ökumenischen Glaubensbekenntnisse des vierten und fünften Jahrhunderts indirekt, doch entscheidend das christliche Verständnis von Jesus und die Deutung des Neuen Testamentes beeinflußt. Statt sich alleine auf die Heilige Schrift zu verlassen, interpretieren konventionelle Kirchenvertreter sie im Lichte der Dogmen von Nizäa und Chalkedon.

Seit diese Kirchenversammlungen Jesus Christus als den ewigen Sohn definierten, der mit dem Vater wesensgleich und wahrer Gott vom wahren Gott sei, lesen Laien das Neue Testament aus dieser Perspektive. C.S. Lewis. der bekannte christliche Apologet und Science-Fiction-Autor, war ein besonders überzeugungskräftiger Vertreter dieses Standpunktes. Der Sohn der Seligen Jungfrau ist Gott, schrieb er.\ Da stand plötzlich ein Mann unter den Juden auf. der redete, als ob er Gott sei. Er beanspruchte, vom Beginn der Schöpfung an existiert zu haben. Er nahm sich das Recht heraus, den Menschen die Sünden zu vergeben. Jesus behauptete, daß er am Ende der Zeit kommen werde, die Welt zu richten. Wir können eine solche Person nicht einfach als einen großen religiösen Lehrer beschreiben. Von seinen Ansprüchen her muß man folgern, daß er entweder Gott oder einfach verrückt oder der Teufel sei.2

Darüberhinaus berichtet das Neue Testament - nach Lewls -, daß der Tod Jesu Christi uns irgendwie mit Gott ins Reine gebracht und uns einen neuen Start fürs Leben geschenkt hat.3 Christus wurde für uns getötet. Sein Tod wusch unsere Sünden fort. Und durch sein Kreuz können wir den Tod besiegen.4

Da dies nun vermeintlich den Kern der christlichen Botschaft ausmacht, pflegt man die Evanglien in diesem Licht zu lesen. Wie der Weltkirchenrat ursprünglich als Qualifikation für Mitgliedschaft definierte, heißt Christsein glauben, daß Jesus Christus „Gott und Erlöser" ist. Wer das Neue Testament durch diese Brille liest, will sehen, daß Jesus nicht menschlich, sondern göttlich war. Die Evangelien dienen in diesem Fall vor allem dazu, die Lehren von der Fleischwerdung Gottes und der Sühne am Kreuz zu belegen.

Wie ist es dazu gekommen? Erstens: Vor dem Aufkommen der historischen Kritik hatte man angenommen, die Evangelien vermittelten ein geschichtlich genaues Wissen um Jesus, niedergeschrieben von den Aposteln selbst oder von Menschen aus ihrem täglichen Umgang. Matthäus und Johannes waren zwei der ursprünglichen zwölf Apostel. Markus war der Übersetzer für Petrus und möglicherweise der junge Mann, der nackt aus dem Garten Gethsemane floh, als Jesus gefangengenommen wurde. Lukas war ein Reisegefährte des Paulus. Mit anderen Worten, die Evangelisten waren zuverlässige Historiker, weil sie an den beschriebenen Ereignissen selbst teilgenommen hatten oder diesbezügliche Berichte von Mitgliedern des Apostelkollegiums prüfen lassen konnten.

Zweitens: Das Neue Testament zeigt klar die übernatürliche Autorität und Macht Jesu. Er kann nicht bloß menschlich gewesen sein, weil er solch erstaunliche Wunder vollbrachte. Welcher Mensch kann über das Wasser wandeln oder 5000 Leute mit fünf Broten und zwei Fischen sättigen? Und sicherlich muß Jesus beides. „Herr und Gott“, gewesen sein, wie der Apostel Thomas bekannte, weil Jesus nach seiner Kreuzigung und seinem Begräbnis körperlich den Jüngern erschien. Beim Gedanken an die erstaunlichen Wunder in den Evangelien folgern rechtgläubige Christen, daß Jesus Christus eines Wesens mit Gott dem Vater ist, gezeugt, nicht geschaffen. Gott von Gott. wie es die Glaubensbekenntnisse erklären.

Drittens: Die übernatürliche Seinsweise Jesu wurde von solchen anerkannt, die ihm am nächsten standen und ihn am besten kannten. Johannes der Täufer hörte Gott Jesus Seinen geliebten Sohn nennen (Mt 3, 16f), und er selbst bezeichnete Jesus als das Lamm, das die Sünden der Welt hinwegnimmt (Joh l .29). Petrus bekannte, daß Jesus der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes sei (Mt 16,16). Matthäus, der Zöllner, hörte, wie Jesus die Thora des Mose korrigierte und verbesserte (Mt 5,21-48). Die Jünger Petrus, Jakobus und Johannes sahen Jesus verklärt, wie er mit Mose und Elia redete (Mk 9,4). Maria Magdalena sah mit ihren eigenen Augen den auferstandenen Jesus und hörte ihn sagen, daß er bald zum Vater auffahren werde (Joh 20,17).Der römische Hauptmann, der bei Jesu Tod zugegen war, pries ihn mit den Worten, dieser sei wahrhaftig ein Sohn Gottes (Mk 15,39). Und Paulus, der mit den Aposteln lange Gespräche geführt hatte, beschrieb Jesus als jemand, der in der Erscheinungsform Gottes war und nun einen Namen erhalten hatte, der über alle Namen war (Phil 2,6-11). Auf der Basis all dieser angegebenen Zeugnisse aus erster Hand verleiht das Neue Testament Jesus zehn Hoheitstitel: Prophet, Leidensknecht, Hoherpriester, Messias, Menschensohn, Herr, Erlöser, Logos, Sohn Gottes und Gott.5

Viertens: Jesus ist einzigartig, weil zahlreiche Einzelheiten seines Lebens eine genaue Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen darstellen. Wie Bischof Fulton J. Sheen feststellt: Wenn jemand von Gott kommen soll, um die Menschen zu erlösen, kann Gott wenigstens dessen Ankunft ankündigen. Gott sollte doch wohl erst den Menschen kundtun, wann Sein Botschafter kommt, wo er geboren werden soll, was er lehren wird, welche Feinde er sich machen wird sowie die Art seines Todes. Wenn dann jemand diesen Vorhersagen entspräche, wären wir imstande zu erkennen, daß er wirklich von Gott komme. Im Alten Testament, so Bischof Sheen, können wir tatsächlich solche Prophezeiungen finden, die von Jesus exakt erfüllt wurden.6 Nach der Septuaginta-Übersetzung von Jesaja 7,14 war die jungfräuliche Geburt vorausgesagt. Besonders im Matthäus-Evangelium wird großer Wert darauf gelegt, wie Jesu Leben die alttestamentlichen Prophezeiungen erfüllte. Er wurde in Bethlehem geboren, um Micha 5,2 zu erfüllen, floh nach Ägypten, um Hosea 11,1 zu erfüllen, lebte in Galiläa, um Jesaja 9, 1f zu erfüllen, wurde ein Leidensknecht (Jesaja 53), wurde von Judas für dreißig Silberstücke verraten (Sacharja 11,12), wurde zum Kreuz verurteilt (Psalm 22,16), empfing Essig mit Galle gemischt (Psalm 69,21), starb mit den genauen Worten von Psalm 22,1 auf den Lippen und wurde am dritten Tage aus dem Grabe auferweckt, gemäß der Schrift (Jona 1,17). Was also Christus von allen Menschen unterscheidet, ist, daß er erwartet wurde; seine Ankunft war bis in die Einzelheiten vorausgesagt worden.

Fünftens: Wenn rechtgläubige Christen das Leben Jesu studieren, konzentrieren sie sich auf die Passion. Im apostolischen Glaubensbekenntnis erfahren wir über Jesu irdisches Leben nur, daß er von der Jungfrau Maria geboren wurde, unter Pontius Pilatus litt und gekreuzigt wurde. Da Jesu einziges Ziel nach der traditionellen Lehre darin bestand, die Sünden der Menschheit zu sühnen, indem er am Kreuz starb, gibt es keine Notwendigkeit, sich viel um sein früheres Leben oder sein Lehramt zu kümmern.

Daher ist für einen evangelikalen Gelehrten der wichtigste Zug der Evangelien ihre Theologie des Todes Jesu. Sah Jesus seinen Tod voraus? Welche Bedeutung maß er Ihm zu? Professor George E. Ladd vom Fuller Theological Seminary legte eine der sorgfältigsten neu-evangelikalen Erklärungen der alten Theologie vor. Nach seiner Sicht verstand Jesus seine Sendung als Kombination des endzeitlichen Menschensohnes und des Leidensknechtes. Als Gottes gehorsamer Diener rechnete Jesus mit einem ungewöhnlichen Schicksal, das großes Leid über seine Jünger bringen würde. Markus berichtet uns, daß die Christen fasten, well der Bräutigam ihnen weggenommen wurde (2,20). Als die Jünger Jakobus und Johannes um Ehrenplätze im Königreich baten, sagte ihnen Jesus, daß er gekommen sei, sein Leben als Lösegeld für viele zu geben (Mk 10,45). Auch beim Letzten Abendmahl sah Jesus seinen Tod voraus und bezeichnete den Wein, den er segnete, als das Blut des Bundes, das für viele zur Vergebung der Sünden vergossen werde (Mt 26,28).

Was können wir aus Jesu eigener Haltung gegenüber seinem Tod schließen? Nach Ladd war Jesu Tod ein wesentlicher Teil seiner messianischen Mission: „Der Menschensohn ist gekommen, sein Leben zu geben“ (Mk 10,45). Da Jesus seine Sendung als Gottes Leidensknecht deutete, glaubte er, daß seine Seele bis in den Tod ausgegossen würde, um die Sünden vieler zu tragen (Jes 53,12). Jesu Tod war stellvertretend, weil er sein Leben anstelle der Sünder hingab. Jesus gab sein Leben als Sühnopfer hin (Jes 53,10): er ging freiwillig in den Tod, um Vergebung für andere zu erlangen. Außer einem Lösegeld und einem stellvertretenden Opfer war Jesu Tod auch ein Sieg über das Reich Satans. Der Kreuzestod war ein erlösendes Handeln. Daher wurde der Herrscher dieser Welt aus seiner Machtposition geworfen (Joh 12,31). Durch den Tod am Kreuz hat Jesus die Menschen vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit (Rom 8,2).7

ERGEBNISSE DER MODERNEN BIBELWISSENSCHAFT

Die Interpretation der biblischen Belegstellen über das Leben Jesu, die oben skizziert wurde, brach wie ein Kartenhaus zusammen, als Wissenschaftler im 19. Jahrhundert die Schriften historisch zu prüfen begannen. Es überrascht, wie spät die Christen mit der Suche nach dem historischen Jesus begannen. 1819 hielt Schleiermacher die erste Serie von Universitätsvorlesungen über das Leben Jesu8, und 1835 publizierte David Friedrich Strauss seine epochemachende kritische Studie über die Evangelien. Von da an waren Christen gezwungen, ihr Verständnis um den Mann aus Nazareth zu überprüfen und neu zu definieren.

Während der Aufklärung hatten Apologeten wie Bischof Butler versucht, die Einzigartigkeit Jesu auf der Basis seiner Wunder und der Art zu beweisen, wie in ihm die Erfüllung des Alten Testamentes gesehen wurde. Dieses Argument der Prophetie wurde diskreditiert, als Wissenschaftler begannen, die Heiligen Schriften des Judentums historisch zu interpretieren. Die Propheten schrieben über ihre eigene Zeit, und ihre Botschaft war an ihre Zeitgenossen gerichtet. Jesaja zum Beispiel sagte keine jungfräuliche Geburt voraus, sondern teilte seinen Hörern mit, daß eine wichtige Änderung in ihrer eigenen Zeit stattfinden würde, weil eine bestimmte junge Frau sehr bald ein Kind gebären werde (7,14).9 Oder, um ein anderes Beispiel anzuführen: Der Prophet Jonas wurde von einem Fisch verschlungen. Dadurch sollte er lernen, Gott und Seinem Auftrag zu gehorchen. Mit Jesu Auferstehung hatte das nichts zu tun. Ähnlich waren die Leidensknechtlieder (Jes 53) keine messianischen Prophetien über Jesus, sondern eine alte Interpretation der Sendung Israels in der Geschichte, wie jüdische Autoren schon lange bekräftigt hatten.10

Als die Historiker das Neue Testament zu studieren begannen, erkannten sie, daß die Evangelien keine Augenzeugenberichte vom Leben Jesu waren. Als erstes brach die Vorstellung zusammen, daß das vierte Evangelium vom Apostel Johannes geschrieben sei. Darauf kam man überein, daß Markus und eine Sammlung von Jesusworten („Q" genannt) von Matthäus und Lukas für die Zusammenstellung ihrer Evangelien benutzt worden waren. Mit anderen Worten, die Evangelisten hatten keine „Memoiren" dessen verfaßt, was sie persönlich gesehen hatten. Sie waren Herausgeber von älteren Überlieferungen, die in den christlichen Gemeinden 40 bis 60 Jahre nach Jesu Tod zirkulierten.11 Um daher das Neue Testament zu verstehen, sollte man sehen, wie die verschiedenen Schriften die Entwicklung des christlichen Glaubens widerspiegeln. Die Evangelien geben die lehrmäßigen, ethischen und kirchlichen Wandlungen wider, die zustande kamen, als die Botschaft Jesu den Bedürfnissen der griechisch-jüdischen Christen und der späteren heidnischen Kirchen gemäß verändert wurde. Hinter dem Neuen Testament verbergen sich vier verschiedene Ebenen christlichen Lebens und Denkens: das apokalyptische Judentum Jesu und seiner Jünger, das Judenchristentum des Jakobus, das hellenistische Judentum des Paulus und das Heidenchristentum einer späteren Generation, die in der johanneischen Literatur zur Sprache kommt.12

Literarische und historische „Quellenkritik" der Evangelien bereitete den Weg zur „Formkritik“, deren Pioniere Bultmann und Martin Dibelius waren.13 Die Formkritik ermöglicht es den Wissenschaftlern, die mündlichen Traditionen zu verstehen, die älter als unsere geschriebenen Zeugnisse sind. Da die frühen Christen die Wiederkunft ihres Herrn für die nächste Zukunft erwarteten, hatten sie keinerlei Interesse daran, Geschichten über Jesu Leben oder die Handlungen der Apostel niederzuschreiben. Wohl aber pflegten Christen in ihrer Predigt und Lehre Worte Jesu anzuführen oder ein Ereignis aus seinem Leben zu erzählen, um einen bestimmten Punkt zu beweisen. Auch war es nötig, die Passionsgeschichte weiterzugeben, die erklärte, warum Christen ein Abendmahl feierten, und auch auf die Kritiker antwortete, die vorbrachten, daß unser Herr nichts als ein Krimineller war, der von seinem Volk zurückgewiesen worden war. Die mündliche Tradition bestand damals aus einer Vielzahl unzusammenhängender Sprüche und Episoden sowie der Passionsgeschichte in einer einigermaßen fixierten Form. Die Evangelisten, vor allem Markus, trugen diese mündlichen Traditionen zusammen. Warum war ein schriftlicher Bericht notwendig geworden? Weil der furchtbare römisch-jüdische Krieg, der im Jahre 70 n. Chr. endete, die jüdisch-christliche Gemeinde als Bewahrer dieser mündlichen Überlieferung in alle Winde verstreut hatte; weil kaum noch Christen der ersten und zweiten Generation am Leben waren; weil schließlich die weitere Verzögerung der Parousie die Christen nötigte, Leben und Lehre Jesu aus einer nicht-eschatologischen Perspektive neu zu interpretieren.14

Markus, Lukas und Matthäus (in einem geringen Maße auch Johannes) waren Kompilatoren und Herausgeber der mündlichen Traditionen. Jeder von ihnen gestaltete die Überlieferung gemäß den spezifischen Bedürfnissen seiner Leser. Viele Exegeten würden sagen, Markus gab das Überlieferungsgut der christlichen Gemeinde in Rom weiter, Matthäus sammelte das der syrischen Kirche, Lukas schrieb ein Evangelium für die Heidenchristen, und Johannes besorgte eine Verteidigung der christlichen Botschaft für die halbgnostischen mystischen Gläubigen in Ephesus oder vielleicht Alexandrien. Doch wenn jeder Evangelist die Tradition für jeweils besondere dogmatische und liturgische Zwecke gestaltete, wird es notwendig, diese redaktionellen Absichten zu untersuchen, samt der Art, wie sie das Bild Jesu beeinflußten. In den letzten Jahren hat die „Redaktionsgeschichte“ untersucht, welche schöpferischen theologischen Veränderungen die Evangelisten vorgenommen hatten.15

Quellenkritik, Formkritik und Redaktionsgeschichte haben unser Verständnis der Evangelien radikal verändert und die herkömmliche Methode, das Leben Jesu zu verstehen, für immer unmöglich gemacht. Man kann nicht länger von der Voraussetzung ausgehen, daß etwas auf den historischen Jesus zurückgeht, bloß weil es im Neuen Testament steht. Zuerst haben wir Überwucherungen zu entfernen, die die Tatsachen über sein Leben und Lehren verbergen und entstellen. In diesem Bewußtsein wenden wir uns nun den zeitgenössischen Erkenntnissen auf der Suche nach dem historischen Jesus zu.

DER HISTORISCHE JESUS

Das Neue Testament liefert fast die einzige verläßliche Information, die wir über Jesus haben. Doch sein Material ist durchwegs in hohem Maße von den Lehren und dem Gottesdienst der späteren Kirchen gefärbt.16 Dennoch scheint es einem zeitgenössischen kritischen Bibelwissenschaftler wie Günther Bornkamm möglich, „einen groben Umriß" von Person und Geschichte Jesu zu enthüllen.

Bornkamm, Neutestamentier in Heidelberg und Schüler von Bultmann, publizierte das erste vollständige Leben Jesu auf der „neuen Suche" nach dem historischen Jesus nach dem Zweiten Weltkrieg. Der bekannte amerikanische Bibelwissenschaftler Professor Norman Perrin lobte Bornkamms „Jesus von Nazareth" als ein „prächtiges“ Bild des Lebens und der Lehren Jesu und als das bei weitem „beste Buch über Jesus, das derzeit verfügbar ist". Aus diesem Grunde fassen wir Bornkamms Ergebnisse zusammen.

Welche biographischen Daten haben wir? Jesu Heimatstadt war Nazareth im halbheidnischen und verachteten Galiläa. Sein Vater Joseph war ein Zimmermann. Vielleicht übte Jesus dasselbe Handwerk aus. Seine vier Brüder waren Jakob, Josua, Judas und Simon. Er hatte Schwestern, doch deren Namen sind nicht bekannt (Mk 6,3). Kein Mitglied von Jesu Familie gehörte zum Kern seiner Nachfolger.

Wie alle Galliäer sprach Jesus Aramäisch, aber er konnte auch die alten hebräischen Schriften lesen. Griechisch wurde im Palästina des ersten Jahrhunderts von Kaufleuten und öffentlichen Bediensteten viel gesprochen. Doch wissen wir nicht, ob Jesus oder seine Jünger es sprechen oder verstehen konnten. Jesus konzentrierte seine Tätigkeit auf die kleineren Dörfer und Ansiedlungen im Hügelland und an den Ufern des Sees von Galiläa. Wir können daher annehmen, daß er mit der griechischen Philosophie und dem hellenistischen Lebensstil nur wenig Kontakt hatte.

Mit ungefähr dreißig Jahren wurde Jesus von Johannes getauft und begann seine eigene Tätigkeit als Prediger. Die Berichte der Evangelisten über den Täufer sind nachträgliche Deutungen zu apologetischen Zwecken.17 Daher können wir nicht wissen, welche Einstellung Jesus zu dem Ritus hatte. Wie Johannes wurde er ein Prophet des anbrechenden messianischen Zeitalters, der in Galiläa predigte, während Johannes im Jordantal predigte. Im Unterschied zu Johannes hatte Jesu Tätigkeit ihren Schwerpunkt nicht in der Taufe, sondern im gesprochenen Wort (besonders in den Gleichnissen) und in der helfenden Hand (primär Glaubensheilungen).

Wir wissen nicht sicher, wie lange die Aktivität Jesu dauerte. Vielleicht ein paar Monate oder auch ein Jahr. Die Evangelien geben uns keine verläßliche Chronologie des Lebens Jesu.18 Dennoch erzählen sie uns eine Menge über sein Predigen, sein Heilungswirken, über die Gegnerschaft, die er hervorrief, sowie über seine Beliebtheit unter allen Klassen Palästinas.

Bultmann meint, daß wir mit einer gewissen Vorsicht dem Neuen Testament entnehmen können, daß Jesus ein Exorzist war, daß er die Gebote der Sabbatruhe brach, daß er sich nicht an die traditionellen Reinigungsriten des Judentums hielt und sich gegen den pharisäischen Legalismus aussprach. Jesus erstaunte seine Zeitgenossen auch durch seinen Umgang mit sozialen Randgruppen wie Zolleinnehmern, Dirnen, römischen Soldaten und Samaritern. Ferner unterschied er sich von den meisten Rabbis durch seinen regelmäßigen Umgang mit Frauen und durch seine Nähe zu Kindern. Anders als Johannes war Jesus kein Asket. Daher klagten ihn seine Kritiker an, daß er zu gern feiere und Wein trinke. Wahrscheinlich ist es kennzeichnend, daß zu seiner engeren Gefolgschaft auch Frauen gehörten. Dieser bemerkenswerte Umgang mit Randgruppen, Frauen und Kindern mag in Jesu Augen das Zeichen des heranbrechenden messianischen Zeitalters gewesen sein.

Für Bornkamm bestand der endgültige entscheidende Wendepunkt im Leben Jesu in dem Beschluß, nach Jerusalem zu gehen und die Hauptstadt mit der Botschaft vom hereinbrechenden Reich Gottes zu konfrontieren. Was in Jerusalem geschah, ist jedoch mit legendären Elementen und mit den Lehrabsichten der späteren Kirchen verwoben. So haben wir sehr wenig sicheres Wissen über das letzte Kapitel des Lebens Jesu.19 Es war der nachösterliche Glaube, der Wert darauf legte, daß Jesus in Jerusalem einzog, um zu sterben, damit die alttestamentlichen Prophetien erfüllt würden (Mk 8,31; 9,12; 10,33 f).

Es ist eine weitverbreitete Annahme, daß die Passionsberichte im wesentlichen übereinstimmen, weil Gerichtsverfahren und Tod Jesu gleich am Anfang so wichtige Aspekte der christlichen Predigt waren. Doch wenn man sorgfältig in die synoptischen Evangelien schaut und sie mit den johanneischen Berichten vergleicht, wird man über die radikalen Unterschiede erstaunen. Darüberhinaus gibt es große Hinzufügungen, Auslassungen und Änderungen in den Geschichten der drei Synoptiker selber.

Als erstes wollen wir auf einen fundamentalen Widerspruch zwischen den Synoptikern und Johannes über den triumphalen Einzug in Jerusalem hinweisen. Nach Markus, Matthäus und Lukas fanden der Triumphzug sowie die Tempelreinigung durch die Vertreibung der Geldwechsler zu Beginn der letzten Woche Jesu auf Erden statt. Nach dem vierten Evangelium aber fand die Tempelreinigung zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu statt (Job 2,13-25), unmittelbar nach der wunderbaren Verwandlung des Wassers zu Wein bei der Hochzeit zu Kana.

Zweitens: Warum planten die Feinde Jesu, ihn zu töten? Nach den Synoptikern suchten die Hohenpriester und Schriftgelehrten Jesus zu töten, nachdem er begonnen hatte, in Jerusalem zu predigen (Mk 14, 1f). Das, obwohl schon Herodes Antipas hätte versuchen können, Jesus zu ergreifen und loszuwerden, während er in Galiläa predigte (Mk 6,16; Lk 9,9; 13,31). Nach dem vierten Evangelium beschließt der Hohepriester Kaipbas schon Jesu Tod, als er hört, daß Lazarus wunderbar von den Toten auferstanden war (Joh 11,49ff). Warum fand die Kreuzigung statt? Weil der Hohepriester einen populären Wunderwirker fürchtete? Oder weil Jesus die Feindschaft der Schriftgelehrten und Pharisäer erregte? Oder weil er drohte, den Tempel zu zerstören, wie die Zeugen vor Gericht behaupteten? Oder weil der galiläische Herrscher Herodes Antipas sich vor einem zweiten Johannes dem Täufer fürchtete? Oder weil die Römer einen revolutionären Messiasprätendenten zu beseitigen suchten? Die vier Evangelien geben unterschiedliche Antworten.

Drittens sollten wir die unterschiedlichen Zusätze beachten, die Matthäus und Lukas der ursprünglichen Passionserzählung des Markus hinzufügen. Matthäus fügt zu Markus mehrere sehr wich-tige Ereignisse hinzu: eine Beschreibung vom Selbstmord des Judas (27,3-10), die Händewaschung des Pilatus, der damit seine Unschuld an der Hinrichtung Jesu beteuern will (27,24 f), sowie die Auferstehung vieler jüdischer Gerechter während des Erdbebens, das auf den Tod Jesu folgt (27,51ff). Auch Lukas versieht die Markus-Erzählung mit bedeutsamen Einzelheiten. Nur nach Lukas weint Jesus über Jerusalem (19,41-44) und fordert seine Jünger auf, sich mit Schwertern zu bewaffnen (22,36 ff). Lukas allein erzählt uns, daß Jesus auf wunderbare Weise wieder das Ohr des Soldaten heilt, der ihn im Garten von Ghetsemane gefangennimmt (22,49ff). Nur Lukas berichtet, daß Jesus sowohl vor Herodes Antipas als auch vor Pilatus und dem Hohen Rat vor Gericht gestellt wurde (23,4-16), und daß eine große Menge klagender Frauen Jesus auf dem Weg nach Golgota begleitete (23,27-31). Ohne entscheiden zu wollen, ob solche Ergänzungen von Matthäus und Lukas historisch sind oder nicht: man kann erkennen, wie das Markus-Evangelium von den beiden anderen bearbeitet worden ist.

Viertens betrachten wir sorgfältig die verschiedenen Versionen des Gethsemane-Ereignisses. Markus erzählt das dreifache Gebet der Todesangst Jesu, daß Gott ihm vom Kreuz des Märtyrertums erretten möge: „Vater, alles ist Dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir. Doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst" (Mk 14,36). Dieses ergreifende Ereignis wirft zwei wichtige Probleme auf. Wie wissen wir, was im Garten geschah, da die Jünger schliefen und Jesus von seinen Jüngern unmittelbar danach durch seine Gefangenschaft getrennt wurde? Wichtiger noch: das Ereignis hat beunruhigende theologische Implikationen. Gab es einen Moment, wenn auch nur kurz, in dem Jesus seinen Glauben an die Vorsehung Gottes verlor? Nach diesem Gethsemane-Vorkommnis betete Jesus verzweifelt, daß ihm die Qual des Kreuzes erspart bleibe. Vielleicht aber betete Jesus, daß Gott ihn vor seinen Feinden schützen und von seinem Geschick erretten möge.

Die neuere Bibelexegese anerkennt in wachsendem Maße die Gewalt und den Schrecken der letzten Woche Jesu. Wie ein Jesuitenprofessor von der Gregoriana-Universität in Rom bemerkte, nahm Jesus nicht von vornherein seine vorherbestimmte Kreuzigung an. Er begann seine Sendung nicht mit dem Ausruf: „Meine Kreuzigung steht bevor; bekehrt euch und glaubt an die frohe Botschaft meines Sühne bewirkenden Todes.“ Sicherlich entdeckt Jesus im Gethsemane-Gebet die bitteren Seiten seines Leidens, während er an seine Zukunft denkt. In den letzten Stunden vor seiner Festnahme verliert Jesus die Nerven und sucht nach einem Weg, dem Verhängnis zu entrinnen, meint der genannte katholische Theologe.20

Die späteren Evangelisten hängen in unterschiedlicher Weise einen Vorhang über die Todesangst von Gethsemane und schwächen das Leiden Jesu ab. Markus benutzt den Vorfall zur Illustrierung der Blindheit der Jünger in bezug auf Jesu Gefühle: Als sein Herz von solcher Todesangst befallen wurde, fielen die in Schlaf, die ihm am nächsten standen. Matthäus legt den Gedanken nahe, daß sich Jesus nicht habe gefangen nehmen lassen müssen, weil er eine ganze Legion Engel gehabt hätte, ihn zu erretten (26,53 ff). Das bedeutet, als pflichtbewußter Sohn akzeptierte Jesus freiwillig sein Geschick. Lukas betont einen anderen Aspekt, indem er hinzufügt, daß Jesus von einem Engel, der ihn besuchte, getröstet wurde (22,43). Das vierte Evangelium läßt die Bittgebete Jesu fort. In ausdrücklichem Widerspruch zu Markus legt Johannes Jesus die Worte in den Mund: „Soll ich den Kelch nicht trinken, den der Vater mir gegeben hat?" (18,11). Diese kurze Diskussion der Gartenszene zeigt, wie sehr die Evangelientraditionen für die dogmatischen und apologetischen Ziele der sich entwickelnden christlichen Gemeinschaft revidiert und umgeformt wurden.

An dieser Stelle wollen wir einen Blick darauf werfen, wie die Vereinigungstheologie das Gethsemane-Gebet erklärt, l. Jesus war gekommen, den göttlichen Schmerz zu stillen und das Reich Gottes aufzurichten. 2. Nicht in der Lage, seine Sendung zu erfüllen, wurde er von Betrübnis fast erdrückt. 3. Er wußte, daß sein Tod am Kreuz den Plan Gottes für Sein Volk verhindern würde. 4. Das Leiden der Menschheit würde auf unbestimmte Zeit verlängert und seine Jünger würden gezwungen werden, ein Kreuz wie das seine zu tragen. Erfüllt mit solch verzweifelten Gedanken, betete Jesus um einen möglichen Weg, seine Sendung doch zu erfüllen.

Fünftens muß man den beunruhigenden Faktor der römischen Beteiligung am Tod Jesu in Betracht ziehen. Waren seine Landsleute oder war die Regierung der Besatzungsmacht für seine Kreuzigung verantwortlich? Immer wieder haben jüdische Stimmen (und andere) versucht, die Verantwortung den Römern zu übertragen. Das Neue Testament versucht die Tatsache zu verschleiern, daß Jesus als ein politischer Unruhestifter, dessen Kreuz zwischen denen der beiden zelotischen Märtyrer errichtet wurde, von Pilatus gerichtet und verurteilt wurde. Zahllose Bücher sind zu dieser endlosen Kontroverse erschienen. Während sich keine eindeutige Lösung des Problems abzuzeichnen scheint, stimmen doch alle in einer Hinsicht überein.21 Nach dem Ende des katastrophalen palästinischen Aufstandes im Jahre 70 n. Chr. waren die Christen sehr daran interessiert, jede mögliche Verbindung zwischen der messianischen Bewegung Jesu und der zelotischen Sache zu verbergen. Von Markus’ Zeiten an bis zu den Tagen von Matthäus, Lukas und Johannes wurden die Evangelientraditionen in wachsendem Maße überarbeitet, um die Römer zu entlasten und die Juden für den Tod Jesu verantwortlich zu machen. Schließlich verehrten die koptischen Christen Pontius Pilatus als einen Heiligen. Angesichts all dessen sind wir uns heute der apologetischen Tendenzen, die in der Entwicklung der Passionsgeschichten am Werk sind, wohl bewußt.

Schließlich sollten wir die fundamentalen Änderungen erkennen, die in den Evangelien am Geschehen auf dem Kalvarienberg vorgenommen wurden. Es war lange Sitte, über die „sieben letzten Worte" Jesu am Kreuz zu meditieren. Doch kein einziger der Evangelienschreiber unterstützt eine solche Interpretation. Die sogenannten sieben letzten Worte stellen eine zusammengesetzte Überlieferung dar, geschaffen von der späteren Kirche.

Was überliefern uns die Evangelien? Markus sagt, daß Jesus nur einmal vom Kreuz her sprach: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?"(15,34) Da dieser Vers aus Psalm 22, l leicht als ein Schrei gottverlassener Verzweiflung mißverstanden werden konnte, sahen sich Lukas und Johannes genötigt, Ergänzungen zu machen, die passender zu sein schienen. Lukas zeichnet das Porträt eines edlen Märtyrers. Als Jesus ans Kreuz genagelt wird, ist sein erstes Gebet, Verzeihung zu gewähren: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (23,34). Dem reuigen „Schacher" (vermutlich einem zelotischen Terroristen) verspricht Jesus: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein" (23,43). Zum Schluß nähert er sich gelassen der Vereinigung mit Gott: „Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist" (23,46). Indem er seine spezifische Kreuzestheologie zeichnet, überliefert Lukas nur diese drei letzten Ausrufe des sterbenden Jesus. Matthäus aber zieht es vor, Markus zu wiederholen. Vermutlich wegen seiner Faszination, Jesus als die Erfüllung der alttestamentlichen Voraussagen aufzuzeigen, behält Matthäus das Psalmen-Zitat des Markus bei. Für ihn gab es keine theologische Verlegenheit über den Schrei der Verlassenheit, wenn er nur als eine biblische Vorhersage gesehen wird, die endlich wahr wurde. Nach Matthäus war Markus korrekt: Jesus sprach nur einmal vom Kreuz. Ganz anders ist der Johanneische Bericht: Anstelle der Zitats von Psalm 22 bei Markus oder den Ausrufen bei Lukas überliefert dieser Autor drei (oder vier) neue Worte: „Weib, siehe dein Sohn" - „Siehe deine Mutter" (19,26 f) - „Mich dürstet" (19,28) und „Es ist vollbracht" (19,30). In der Johanneischen Kreuzestheologie beendet Jesus seine irdische Sendung mit einem Siegesschrei, weil sein Tod ein Augenblick der Verherrlichung ist, der ihn instand setzt, alle Menschen zu Gott zu ziehen.22

JESUS UND DAS REICH GOTTES

Das Kommen des Gottesreiches war der Schlüsselpunkt der Botschaft Jesu. Er war ein endzeitlicher Prophet, der ausrief: „Bekehrt euch, denn das Reich Gottes ist nahe". Fast jeder moderne Exeget des Neuen Testamentes anerkennt diese Tatsache. Doch sind von ihr verschiedene Interpretationen entwickelt worden.

Für den alten apokalyptischen Juden bezog sich das Reich Gottes auf die Ausgießung des Geistes. In den Zelten der Patriarchen besaßen alle frommen Menschen den Geist Gottes. Dann wurde wegen der Sünde Israels - der Verehrung des Goldenen Kalbes - die Gabe des Geistes auf wenige Auserwählte begrenzt: Gottes eigens gesalbte Könige, Propheten und Hohepriester. Mit dem Tod des letzten alttestamentlichen Propheten verschwand auch das. Als einmal die alttestamentlichen Schriften vollständig waren, sprach Gott nur noch „durch das Echo Seiner Stimme“. Doch In den Letzten Tagen wird der Geist mit außerordentlichen Visionen, Träumen und wunderbaren Zeichen wiederkehren. Im Neuen Testament werden Jesu Dämonenaustreibungen als Beweise für diese Wiederkehr des Geistes dargestellt. Also bedeutet das Reich Gottes die Überwindung der kosmischen Herrschaft Satans. Jesu Tätigkeit war ein Kampf gegen die dämonischen Kräfte, die die Menschheit versklaven. Er verstand seine Arbeit als endzeitliche Kriegsführung gegen die unsichtbaren bösen Mächte.

Ein moderner Jude, Rabbi J. Klausner, vertritt die Ansicht, daß der jüdische Messianismus des ersten Jahrhunderts aus zwei Konzeptionen bestand: politische-nationale Befreiung und religiöse Erlösung.23 So würde der Messias Herrscher und Erlöser sein. Gott würde solch ein Individuum salben, um die Juden von der ausländischen Unterdrückung zu befreien und ihre Religion wiederzubeleben. Vom Messias wurde erwartet, daß er den Götzendienst ausrotte, der Sünde ein Ende setze und das Reich Gottes weltweit aufrichte. Der jüdische Messias werde kraftvoll an Körper und machtvoll an Geist sein, und nicht allein vollkommene Erlösung für die Juden bringen, sondern ethische Vollendung, politische Ordnung, ökonomischen Wohlstand und ewigen Frieden für die ganze Menschheit.

Der Messias ist ein menschlicher Führer und kein übernatürliches Wesen. Die Erlösung kommt von Gott allein, wobei der Messias nur ein Instrument in Gottes Händen ist. Obwohl der Gesalbte einen zentralen Platz im Reiche einnehmen wird, bleibt Gott für immer das primäre Gegenüber der Treue und der Verehrung. Dies war die vorherrschende messianische Sicht in Jesu Tagen.

In der Lehre Jesu gab es einige weiterführende Gedanken. Viele seiner jüdischen Landsleute nahmen an, daß Gott immer König über Israel sei und Satan nur Macht über die Heiden habe, die das auserwählte Volk unterdrückten. Wie die Essener und Johannes der Täufer leugnete Jesus das bedingungslose, automatische Auserwähltsein des jüdischen Volkes. Nur ein heiliger Rest war dem Bunde Gottes mit Abraham treu geblieben. Jesus rief daher seine Landsleute auf, zu bereuen, sich zu bekehren und sich mit dem nach Gottes Fügung neuen Volk zu verbinden. Sein einziges Ziel war, das Volk Gottes zu einer klar umrissenen Gemeinschaft zu sammeln, die für das Kommen des messianischen Zeitalters bereit war.24

In einem anderen Punkt unterschied sich Jesus grundlegend von den Jungem des Täufers Johannes und von der Qumran-Sekte: In seiner Interpretation des heiligen Restes. Für jene war das Reich Gottes für „die Frommen“, eine auserwählte Gruppe, wogegen Jesus die Grenzenlosigkeit der Gnade Gottes verkündete. An seiner Tafel waren die verhaßten Zöllner, die verrufenen Dirnen und die wohlbekannten „Sünder“ willkommen. Er ermahnte seine Jünger, die Krüppel, die Lahmen und Blinden zum messianischen Fest einzuladen. In seinen Augen liebt Gott die Sünder; Er ist der Vater der Kleinen, der Armen und der Verlorenen. Daher öffnete er weit die Türen und schuf eine alles umarmende Gemeinschaft von Gottes neuem Volk.

Befreiungstheologen erklären das neuerdings etwas anders. Jon Sobrino zum Beispiel setzt voraus, daß Jesus nicht die Zentralbotschaft seiner eigenen Sendung war. Er predigte nicht sich selbst, sondern das Reich Gottes. Jesus kam im Dienst des erwarteten Reiches Gottes. So stellte sein Dienst eine Bestätigung der prophetischen Tradition des Judentums dar. Nachdem sie zahlreiche politische und soziale Katastrophen erlebt hatten, erhofften fromme Juden eine Art wahrer Befreiung und einen Messias, der ihre Wünsche verwirklichen werde.25

Die Befreiungstheologie betont, daß Gottes künftiges Reich eine völlig neue und dauerhafte soziale Ordnung herstellen werde. Im Reich Gottes wird die ganze Menschheit vertikal auf Ihn hin ausgerichtet sein, als Seine Söhne und Töchter. Es wird Versöhnung und wahre Bruderschaft unter den Menschen geben. Man erwartete vom Reich Gottes, den innersten Geist der Menschen verwandeln und ihre konkreten Beziehungen untereinander neu zu strukturieren.

Gottes bevorstehendes Königreich erfordert den Sieg über die Sünde. Sünde ist Trennung von Gott mit sich selbst im Mittelpunkt und selbstsüchtige Unterdrückung des Mitmenschen. Daher muß die Sünde ausgerottet, nicht bloß vergeben werden. Also ist die frohe Botschaft Befreiung. Die Opposition Jesu gegenüber der strukturellen Sünde zeigt sich in der Weise, wie er mit den Ausgebeuteten und Entfremdeten Gemeinschaft hielt. Sein Jünger sein heißt, für Liebe und Gerechtigkeit zu kämpfen. Man kann gegen Gott nur dadurch sündigen, daß man gegen den Menschen sündigt. Man kann nur durch Liebe und Dienst am Menschen Gott lieben und erlöst werden, lehren die Befreiungstheologen.

Viele zeitgenössische Wissenschaftler würden diese Interpretation des kommenden Reiches durch die Befreiungstheologie in Frage stellen. Sie übersieht die endzeitliche Natur der Botschaft Jesu. Er lehrte nicht, daß der Mensch das Reich Gottes durch politischen Einsatz, Gesellschaftskritik und revolutionäre Aktion errichten müsse.

Jesu charakteristische Lehrmethode war sein Gebrauch von Gleichnissen. Der Brennpunkt all seiner Gleichnisse war das kommende Reich Gottes. Jedes Gleichnis erfaßt einen bestimmten Aspekt des Gottesreiches - seine Vorrangigkeit, seine Dringlichkeit, seine Kostbarkeit. Jesus vergleicht das kommende Königtum mit einer herrlichen Perle von solch großem Wert, daß derjenige, der sie erwirbt, all seinen Besitz verkaufen muß, um ihren Preis zu erreichen. So hoch ist der Wert, sind die Kosten des Reiches Gottes.

Um ins Gottesreich einzutreten, wie Jesus es lehrte, muß man vollkommen sein, wie der himmlische Vater vollkommen ist. Im Judentum bezieht sich Vollkommenheit auf die Verwirklichung der jeweiligen Möglichkeiten und die Erfüllung des grundlegenden Zieles als Kind Gottes. In der Vereinigungslehre ist die Reinigung von der ursprünglichen Sünde Voraussetzung für die Vollendung. Der Makel der ursprünglichen Sünde läßt sich nur durch den Segen des Messias entfernen. Solche gesegneten Individuen, Paare, Familien und Nationen werden das Reich Gottes auf Erden errichten. So vertreten es die Mitglieder der Vereinigungskirche.

JOHANNES DER TÄUFER

Das Buch Maleachi sagte die Rückkehr des Elia voraus, die der Ankunft des Messias vorangehe: „Bevor aber der Tag des Herrn kommt, der große und furchtbare Tag, sende Ich zu euch den Propheten Elia" (3,23). Elia hatte all die falschen Propheten In seinein großen Kampf für Jahwe am Berg Carmel besiegt. Es war seine Mission, Satan zu unterjochen (der in den ausschweifenden Baalskulten In Erscheinung trat) und das Übel für immer aus Israel zu vertreiben. Doch nach seinem Tod machten die Israeliten wieder gemeinsame Sache mit Satan. Indem sie die Götzen verehrten. Daher mußte das Werk des Elia von neuem getan werden. Maleachi prophezeite, daß ein anderer geistiger Führer wie Elia nötig wäre, der das Volk auf den Messias vorbereiten sollte. Von daher schloß die eschatologische Hoffnung vielfach eine Rückkehr des Elia vor der Ankunft des Messias ein.

Nach den synoptischen Traditionen hielt Jesus den Johannes für den vorhergesagten Elia. Lukas berichtet, daß ein Engel dem Vater des Johannes, Zacharias, mitteilte, sein Sohn werde gesalbt mit „dem Geist und der Kraft des Elia... und so das Volk für den Herrn bereit zu machen" (l, 17).

Das Alte Testament gibt Zeugnis, mit welcher Sorgfalt Gott besondere Menschen beauftragte, den Weg für den kommenden Messias zu ebnen. Patriarchen, Pächter, Könige und Propheten ermahnten, führten und prophezeiten - alle zu diesem Zweck. Johannes der Täufer war erwählt, der letzte und größte dieser messianischen Vorläufer zu sein. Seine Aufgabe war es, die Zeichen der Zelt zu erkennen, das kommende Reich Gottes anzukündigen und auf den verheißenen Messias hinzuweisen. Alles im Leben des Johannes war dazu bestimmt, ihn für diese einzigartige Sendung vorzubereiten. Zu diesem Zweck zog er sich in die judäische Wildnis zurück, führte ein asketisches Leben, kleidete sich wie der alte Prophet Elia und predigte die Notwendigkeit nationaler Buße.

Natürlicherweise waren die Menschen von der dynamischen Botschaft des Täufers derart beeindruckt, daß sich einige die Frage stellten, ob er selbst der Christus sei. Als seine Jünger und andere Interessierte Hörer fragten, ob er selbst der Messias sei, antwortete Johannes: Ich taufe euch nur mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen" (Lk 3,16).

Als Jesus einmal über die Nähe des Reiches Gottes predigte, und einige sagten, daß er der Messias sei, kamen Pharisäer zu ihm und fragten, wo Elia sei. Jesus antwortete, Johannes der Täufer sei Elia (Mt 17,10-13). Im vierten Evangelium jedoch leugnet der Täufer diese Rolle, als Priester und Leviten zu ihm kamen und ihn fragten, ob er Elia sei (Joh 1,19-21).

Die „Göttlichen Prinzipien“ beschreiben Johannes den Täufer als die zentrale Figur, die in dem weltweiten Wiederherstellungsprozeß die Grundlagen des Glaubens wiederherstellen sollte. Gott erwartete, daß er den Weg für den Messias ebne, die Sendung des Elia, Israel von Satan zu trennen, fortsetze und vollende.

Wegen seiner feurigen Predigt wurde Johannes in Palästina außerordentlich bekannt. Seine Stimme hatte weit mehr Autorität als die Jesu, der nur ein Zimmermann war und außerhalb der kleinen Städtchen am Ufer des Galiläischen Sees weitgehend unbekannt blieb. Die meisten Juden hätten wahrscheinlich Jesus als Messias angenommen, wenn Johannes für ihn Zeugnis gegeben hätte. Nachdem Johannes Jesus getauft hatte, hätte er ihm folgen sollen, hätte sein glühender Schüler werden und andere dazu mitreißen sollen, Jesu messianische Bewegung zu unterstützen.

Nach Lukas sandte der von Herodes Antipas als politischer Agitator gefangengesetzte Johannes zwei seiner Jünger, um Jesus zu fragen, ob er der Messias sei. Jesus sagte den Boten, sie sollten ihrem Meister berichten, was sie von seiner Tätigkeit gehört und gesehen hätten. Jesus fügte ziemlich spitz hinzu: „Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt!" Nachdem er den Täufer vor einer Menge seiner eigenen Anhänger gepriesen hatte, erklärte Jesus: „Ich sage euch: Unter allen Menschen gibt es keinen größeren als Johannes; doch der Kleinste im Reich Gottes ist größer als er (Lk 7,28).

Was veranlaßte ihn, Johannes öffentlich derart herabzusetzen? Was seine Mission anging, war Johannes der letzte hebräische Prophet, denn er war speziell dazu erwählt, direktes Zeugnis für den Messias zu geben. In diesem Sinne war Johannes der Größte unter den vom Weibe Geborenen. Doch indem er sich weigerte, den Messias uneingeschränkt zu unterstützen, verlor Johannes nachgerade jede Bedeutung. Hier enthüllt Jesus, wie er sich durch das Zögern, die Zweifel und die Unentschlossenheit des Täufers verletzt fühlt.

Wäre Johannes Jesus gefolgt, nachdem er ihn getauft hatte, und hätte er ihn aus ganzem Herzen unterstützt, hätte sich vielleicht ganz Israel Jesus zuwenden können. Welch eine Wucht hätten ihre vereinten Kräfte entfaltet! Aber Johannes, der Hauptvorläufer Jesu, versagte in seiner gottgegebenen Sendung, Israel für seinen Messias vorzubereiten. Statt direktes Zeugnis von der messianischen Würde Jesu zu geben, erschwerte der Täufer es den Menschen, Jesus zu akzeptieren.

Diese radikale Sicht des Täufers ist ein spezifischer Beitrag der Vereinigungstheologie. Traditionell haben die Christen ihn als den gläubiger Vorläufer gepriesen und ihn einen Heiligen genannt Zum erstenmal erkennen wir, daß sich Johannes für Jesus als ein „Ärgernis" erwies, als ein Stolperstein auf dem Weg zur Verwirklichung des Reiches Gottes. Doch diese neue Interpretation des Täufers wird in wachsendem Maße durch die biblische Exegese unterstützt.

Zum Beispiel legt das Neue Testament mehrere Punkte der Kritik an Jesus nahe, die bei den Jüngern des Johannes ihren Ursprung hatten: l. daß Jesus geringer als Johannes war, weil er sich seiner Taufe unterwarf; 2. daß Jesu Lebensführung nicht so streng religiös war wie die des Johannes; 3. daß Jesus als Jünger des Täufers begonnen habe, dann die Taufpraxis entlehnt und die Botschaft des Johannes nachgeahmt habe.

In einem gewissen Maße versuchen alle Evangelien auf verschiedene Weise. Johannes Jesus unterzuordnen, aber das Johannes-Evangelium spricht sich in besonderem Maße gegen den Täufer aus. Es weist überzeugend nach, daß die Feinde des Christentums in Johannes dem Täufer eine wirkungsvolle Waffe gegen Jesus fanden.

Im vierten Evangelium ist der Täufer zu einer bloßen Stimme reduziert, deren einzige Funktion darin besteht, Jesus als den Retter der Welt auszurufen. Als der Täufer einmal die messianische Autorität Jesu verkündet hatte, war sein gottgegebener Auftrag beendet. Das vierte Evangelium läßt die Geschichte von Jesu Taufe fort und beschreibt den Ritus des Johannes als einen des bloßen Wassers statt des Geistes. Der Täufer begrüßt Jesus als das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt. Und die Schüler des Täufers folgen Jesus. Das vierte Evangelium korrigiert den synoptischen Bericht, daß Jesus nach der Gefangennahme des Täufers zu predigen begann, als ob Jesus ein Schüler des Täufers wäre, der das Werk des Johannes fortsetzte. Das Johanneische Evangelium berichtet, daß Jesus gleichzeitig predigte und größere Menschenmengen anzog (3,22.26). Im Hinblick auf die Beziehung der beiden Männer betont Jesus, daß er „von oben kommt", während Johannes nur „ein Sohn der Erde“ sei, der irdische Dinge spricht (3,31). Wenn das Johanneische Evangelium irgendwann zwischen 80 und 120 nach Christus geschrieben wurde, ist die Predigt des Täufers und seiner Schüler noch fast ein Jahrhundert nach dem Tod von Johannes und Jesus ein ernstes Hindernis für die missionarische Arbeit der Christen geblieben. Tatsächlich besteht im Irak bis auf den heutigen Tag eine Täufersekte weiter. Somit neigt die zeitgenössische Wissenschaft dazu, die Sicht der „Göttlichen Prinzipien“ zu belegen, daß das Werk des Täufers der Verwirklichung der messianischen Mission Jesu im Wege gestanden hat.

DAS ÖFFENTLICHE WIRKEN JESU

Wie sah Jesu Tätigkeit in Galiläa aus? Moderne Forscher gehen darüber in ihren Meinungen stark auseinander. Liberale sagen, daß sich Jesus eine Zeitlang, trotz einiger Opposition, großer Popularität in Galiläa erfreute. Wegen seines Ruhmes als wunderwirkender Glaubensheiler und inspirierter Lehrer strömten die Scharen zu ihm. Unvermeidlicherweise zog er Kritik von etablierten Schriftgelehrten und Pharisäern auf sich. Doch Jesu Anhänger waren weit zahlreicher als seine Kritiker.

Liberale Bibelwissenschaftler unterscheiden daher scharf zwei Perioden in Jesu Tätigkeit: die frühen Tage, die mit einem „galiläischen Frühling" verglichen werden, und eine spätere Periode der gefährlichen Gegnerschaft. Zuerst schien eine wirkliche Chance zu bestehen, daß Jesus Tätigkeit von Erfolg gekrönt würde.

Goodspeed behauptet, daß eine plötzliche Änderung eintrat, sobald die Pharisäer Herodes Antipas überredet hatten, Jesu Bewegung zu unterdrücken. Um einen gefährlichen Zusammenstoß mit seinen galiläischen Feinden zu vermeiden, floh Jesus heimlich ins heidnische Tyrus und Sidon an der Küstenebene Phöniziens (Mk 7,24), verbrachte dann einige Zeit außerhalb des herodianischen Bereiches im Gebiet der „Zehn Städte", das vom Tetrachen Philipus (Mk 7,31) regiert wurde. Guignebert beschreibt diese Periode als Irflug eines Menschen, der sich gejagt fühlte.26

Trotz dieser Hindernisse wehrte sich Jesus dagegen, seine Hoffnung auf Erfolg völlig aufzugeben: letztlich zusammen mit seinem Volk einen Sieg zu erringen.27 Deshalb beschloß er, während des Passah-Festes Jerusalem zu betreten und sich allen Juden vorzustellen, indem er ihnen ihre große messianische Bestimmung vor Augen führte.

Küng interpretiert Jesu Tätigkeit in Galiläa anders. In seinen Augen erfreute sich Jesus keines erfolgreichen galiläischen Frühlings. Von Anfang an traf er auf Zweifel, bittere Feindschaft und Ablehnung.28 Es gab also keine Periode riesiger Popularität, der eine Zeit der Trübsal folgte.

Ferner können wir uns nicht auf die Genauigkeit der zeitlichen und geographischen Angaben über Jesu Tätigkeit bei Markus verlassen. Nach Ansicht der Formkritik hat Markus keine Umrisse des Lebens Jesu aus der Tradition überliefert bekommen. Er schuf selbst die geographischen und zeitlichen Verbindungen, die die einzelnen Aussprüche und Handlungen Jesu miteinander verbinden.

Küng nimmt an, daß die Vorstellung, Jesus sei nach Jerusalem gegangen, um dort zu sterben, eine spätere christliche Interpretation sei, weil nach Lukas’ Bericht die Jünger hofften, die Reise zur Heiligen Stadt werde zum Erscheinen des Reiches Gottes führen (19,11). Guignebert meint, daß Jesus nicht zum Sterben, sondern zum Handeln nach Jerusalem gegangen sei. Oder, wie Goguel folgert, als Jesus gezwungen war, Galiläa zu verlassen und sich in ein Gebiet jenseits des Herrschaftsbereichs von Herodes zu flüchten, blieb sein Glaube an seine Sendung unerschüttert. Er war nach wie vor sicher, daß das Reich Gottes nahe sei.29

Sobrino bietet noch eine dritte Sichtweise des öffentlichen Wirkens Jesu an.30 Er akzeptiert wie Goguel die Vorstellung eines galiläischen Frühling, in dem Jesus beim gewöhnlichen Volk ungeheuer beliebt war. Doch im Unterschied zu den Liberalen findet Sobrino, daß Jesus gezwungen war, seinen Glauben wegen der Feindschaft der Pharisäer und der Bedrohung durch Herodes zu ändern.

Nach Sobrino verhielt Jesus sich zu Beginn seines öffentlichen Lebens einigermaßen wie ein apokalyptischer Jude. Sein Glaube gründete damals auf den eschatologischen Verheißungen. Er spricht und handelt, als ob das Reich Gottes im Anbruch wäre. Deshalb tut er alles, was er kann, um die Liebe aufzuzeigen, die in Richtung des Herrschaftsbereiches von Gottes Herz wirken wird. Er trägt auch seinen Jungem auf, die eschatologische Hoffnung zu verkünden. Die Hörer sind herausgefordert, ihren Bück auf das Nahen des Reiches zu richten, Gott zu gehorchen und praktische Handlungen der menschlichen Versöhnung zu vollbringen.31

Die Lehren und Handlungen Jesu waren dazu bestimmt, die Menschen miteinander und mit Gott zu versöhnen. Er lehrte: Wenn jemand eine Gabe zum Altar bringen will und sich plötzlich erinnert, daß es da einen Verdruß mit seinem Nachbarn gibt, dann sollte er den Tempel verlassen und sich zuerst mit seinem Bruder versöhnen (Mt 5,23f). Um der bitteren religiösen Animosität zwischen Juden und Samaritern entgegenzuwirken, erzählte Jesus die Parabel vom barmherzigen Samariter. Um den Antagonismus von Juden und Römern zu beheben, pries Jesus einen römischen Hauptmann, größeren Glauben zu haben als irgendjemand in Israel. In Opposition zum strengen sozialen Klassensystem aß Jesus offen mit den Zöllnern. Und in einer Zeit, in der Frauen den Männern gegenüber als minderwertig betrachtet wurden, nahm Jesus sie in seinen inneren Kreis auf.

Dieses erste Stadium der Tätigkeit Jesu kam zu einem abrupten Ende. Er verließ das Herz Galiläas, um sich zunächst nach Caesarea Philipi und dann zu den zehn Städten der Dekapolis aufzumachen. Warum geschah diese plötzliche Änderung? Weil Jesus gewahr wurde, daß er gefährliche Gegnerschaft hervorgerufen hatte.

Es gibt manche klare Zeichen, die auf diesen anscheinenden Mangel an Erfolg hindeuten (Mk 8;Mt 13). Die religiösen Führer hatten seine Predigten nicht akzeptiert. Die Menschenscharen, die vor kurzem noch begeistert waren, begannen ihn zu verlassen. Jesu Jünger vermochten ihn nicht zu begreifen. Und das vierte Evangelium gibt zu verstehen, daß es zwei Versuche gab, ihn zu steinigen, so daß er sich um seiner Sicherheit willen auf die andere Seite des Jordans zurückzog (8,59; 10,31.39.40),

Alle Evangelien deuten an, daß sich Jesus einer ernsten inneren und äußeren Krise gegenüber sah. Anscheinend wollte er sich zurückziehen und nur mehr einen kleinen Kern auserwählter Jünger lehren. Schließlich fand eine radikale Änderung seines Verständnisses von sich selbst und seiner Sendung statt.32

Jesus wurde genötigt, seinen Glauben neu zu gestalten. Er behält sein Vertrauen in Gott, erkennt jedoch die Ablehnung durch sein Volk als zunehmend wahrscheinlich. Jesu Haltung bei Caesarea Philipi bis zu seinem Kreuzestod war sehr verschieden von seiner ursprünglichen Zuversicht. Während er früher die Ankunft des Reiches Gottes erwartete, erkannte er nun, daß er möglicherweise dem Tod ins Auge zu sehen habe. Er erwartete nicht mehr die sofortige Ankunft der Herrschaft Gottes. Er warnte seine Jünger, daß er Gefangenschaft und Tod erleiden könnte. Fortan wird Jüngerschaft als die Bereitschaft beschrieben, sein Kreuz auf sich zu nehmen. Jesu Glaube an sich selbst und seine Sache hat sich somit in mitten der konfliktbeladenen Situation innerlich wie äußerlich radikal verändert.

Nach der synoptischen Tradition wurde Jesus wirklich versucht, und dies nicht nur zu Beginn seiner Tätigkeit, meint Sobrino. Er mußte entscheiden, wie er seine Sendung konkret durchführen könnte. Jesus hatte die Versuchung zu bestehen, die aus seinem Zusammenprall mit den historischen Mächten der Sünde hervorging. Wegen ernstlicher Konflikte mit den religiösen Autoritäten geriet Jesu Leben in große Gefahr. Seine Jünger rüsteten sich, die Schwierigkeiten abzuwehren. Wie kann Jesus in seiner Sendung Erfolg haben? Es scheint, daß ihn nur Gewalt hätte retten können. Wie wir aus der Erzählung vom Garten Gethsemane erfahren, möchte er nicht sterben. In großer Todesangst bittet er Gott, ihm nicht das Trinken des Märtyrerkelches abzuverlangen. Wenn er könnte, würde er die Passion vermeiden.

GÄNGIGE MEINUNGEN ÜBER DEN TOD JESU

Wie sehen zeitgenössische Theologen die Bedeutung des Todes Jesu? Bultmanns Meinung ist vielleicht die radikalste: Wir wissen einfach nicht, was Jesus über sein Ende dachte. Möglicherweise brach er völlig zusammen, sein Glaube am Boden zerstört.33 Wie Markus es darstellt, stieß Jesus einen Verzweiflungsschrei aus, seufzte laut und gab seinen Geist auf. Daraus schließt der deutsche Bibelkritiker Willi Marxsen, man könne mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, daß Jesus seinen Tod nicht als ein Heilsereignis an sah.

Der katholische Theologe Kasper aus Tübingen versucht, eine so drastische Folgerung zu vermeiden. Doch er gibt zu, daß unsere Quellen Probleme aufwerfen. Die Spruchquelle („Q"), die von Matthäus und Lukas benutzt wird, enthält keinen direkten Bezug zur Passion und spricht nirgends dem Kreuz eine Heilswirksamkeit zu. Alle Logien zeigen, daß Propheten durch Gewalt sterben (Lk 11,49), und daß die Christen Verfolgung erwarten müssen (Lk 6,22).

Doch bei den Synoptikern finden sich verschiedene Prophezeiungen über den Tod Jesu. Alle stellen die Kreuzigung als eine von Gott verhängte Notwendigkeit dar. Jesus wußte um sein Sterben und nahm sein Schicksal freiwillig auf sich. Doch sind diese Texte verläßlich? Kasper räumt ein, daß fast alle Theologen darin übereinstimmen, diese Vorhersagen seien unhistorische nachösterliche Deutungen. Wäre Jesu Tod von Gott vorherbestimmt, hätte er sicher seine Jünger informiert. Wenn die Jünger gewußt hätten, daß Jesus sterben und auferstehen würde, warum wären sie dann über die Kreuzigung bestürzt gewesen, und warum hätten sie zunächst Schwierigkeiten gehabt, die Erscheinungen des auferstandenen Jesus anzuerkennen?

Was die Passionsgeschichten angeht, so enthüllen sie klar die apologetischen, dogmatischen und erbaulichen Interessen der späteren christlichen Gemeinde. Alle Erzählungen des Neuen Testamentes interpretieren das Ende Jesu im Lichte seiner Auferstehung. Die synoptischen Traditionen über die Passion erklären ebenfalls rückwirkend seinen Tod als Erfüllung von Jesaja 53, Psalm 69,21 und Psalm 22,1.

Darüber hinaus wirft Kasper die Frage auf: Erkannte Jesus die Möglichkeit, getötet zu werden? Erstens schloß die eschatologische Hoffnung den Glauben an eine Zeit der Trübsal ein. Die Endzeit würde eine Zeit großer Versuchungen und Leiden sein. Zweitens mußte Jesus wegen der starken Gegnerschaft, die sein Predigen hervorrief, die Möglichkeit eines gewaltsamen Todes in Betracht ziehen. Drittens muß das blutige Schicksal Johannes des Täufers Jesus an das gemahnt haben, was ihm passieren könnte. Viertens scheint Jesus seine Gefangennahme durch seinen Wirbel im Tempel sowie seinen messiasartigen Einzug in Jerusalem provoziert zu haben. Diese zwei dramatischen Ereignisse zwangen seine Feinde zum Handeln. Letztlich, so Kasper, wollte Jesus einen Konflikt mit den Autoritäten. Fünftens, der Schrei vom Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen" braucht nicht als ein Ausdruck der verzweifelten Todesangst gesehen werden.34 Nach Kasper war er eher ein Gebet tiefen Vertrauens, ein Flehen an Gott, Sein Reich einzuleiten. So spricht Jesu Tod seine ganze Botschaft aus. Bis zum Ende ist er einzig am Kommen des Reiches Gottes interessiert. Unter den Bedingungen dieser Weltzeit kann Gottes Reich nur aufscheinen als Liebe in der Verlassenheit und Leben im Tod. Kasper versucht, das Märtyrertum Jesu damit zu rechtfertigen, daß es providentielle Bedeutung gehabt haben könnte. Doch wäre dies mit der eschatologischen Hoffnung Jesu vereinbar?

Paulus, der eine Generation nach dem Tode Jesu schreibt, gesteht zu, daß die Theologie des Kreuzes für Nichtchristen ein Skandal und ein Stolperstein sei. Warum? Weil sich die Juden dieser Zeit keinen gekreuzigten Messias vorstellen konnten. Vielleicht noch bedeutsamer: die Hinrichtung Jesu legte es sehr nahe, daß er als der Träger der messianischen Zeit gescheitert war.

Das neutestamentliche Christentum versuchte, den Skandal der Kreuzigung auf vierfache Weise zu vertuschen: l. durch die Betonung, daß Jesu Tod eine Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen gewesen sei; 2. durch allmähliche Entfernung der apokalyptischen Aspekte von Jesu Lehre; 3. durch Ankündigung der Ankunft des messianischen Zeitalters in einer unvorhersagbaren Zukunft; und 4. durch Neuinterpretation des christlichen Glaubens in mystischen, sakramentalen und kirchlichen Begriffen. Diese Tendenzen können miteinander in Konflikt stehen, doch sie alle existierten in nach-apostolischer Zeit.

Wenn Jesu Hauptziel darin bestand, das langerwartete Reich Gottes einzuleiten, scheint es, daß seine Laufbahn mit Enttäuschung endete. Um Bultmanns derbe Worte zu wiederholen: Die apokalyptische Hoffnung Jesu erfüllte sich nicht. Die gefallene Welt existiert noch immer. Die Geschichte hat Jesu eschatologische Mythologie widerlegt.35

Welche Beweise haben wir für eine so drastische Folgerung? Erstens: Die frühen Christen fügten der gewöhnlichen jüdischen Apokalypsehoffnung einen Anhang bei. Während die Juden annahmen, daß das Königtum Gottes mit der Ankunft des Messias beginnen werde, predigten die Christen, daß der Messias Jesus das Reich Gottes einleitete, dessen volle Verwirklichung jedoch irgendwann in der Zukunft stattfinden werde. Sie deuteten die messianische Rolle derart um, daß sie die irdische Laufbahn des Leidensknechtes Gottes und ein späteres Erscheinen des messianischen Eroberungshelden einschloß. Dies zeigt, daß die ursprünglichen Erwartungen der Jünger Jesu nicht realisiert worden waren.

Zweitens: Jesus selbst mag sich seines Scheitern als eschatologischer Vorbote bewußt gewesen sein, falls die Worte authentisch sind, die Markus ihm am Kreuz in den Mund legt. Hat Jesus am Kreuz in Verzweiflung geschrien, warum Gott ihn verlassen habe? Zwei Faktoren legen die historische Verläßlichkeit des Markus-Berichtes nahe: Zum einen wird der Text in Aramäisch zitiert, in der Sprache Jesu, und die meisten Wissenschaftler sind geneigt, die Echtheit eines Textes anzunehmen, wenn er bis zur aramäischen Quelle zurückverfolgt werden kann.36 Zum anderen würde solch ein Aufschrei niemals von der nach-österlichen Kirche erfunden worden sein, weil er peinliche Fragen aufwarf. Wenn Psalm 22, 2 nur der Ausdruck des Vertrauens Jesu in Gott war, wie manche Apologeten meinen, warum ließ ihn dann Lukas zugunsten des wahrhaft abgeklärten Verses aus einem anderen Psalm: „Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist" (23,46) aus? Natürlich ignoriert auch Johannes den Markus-Text, weil er bei weitem den majestätischen Jesus vorzieht, der die Situation bis zum Ende unter Kontrolle hat. Wir können daher annehmen. daß der Bericht des Markus über den Schrei der Verlassenheit historisch ist. Wie Sobrino einräumt, hätte Markus es nicht gewagt. so skandalöse Worte ohne solide historische Basis zu wählen. Es gab nichts Schönes am Tod Jesu, denn in seinen Augen stellte das Kreuz den Tod seiner Sache dar.

Wenige Theologen werden die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Jesu Sendung nicht mit einein vollen Erfolg endete. Wir wollen zwei bemerkenswerte Ausnahmen näher betrachten. In seinem Buch „Der Herr" betrachtet Romano Guardini die Tragödie der Zurückweisung Jesu durch die Autoritäten und dann durch das Volk. Gottes Reich kam nicht, wie es kommen sollte, weil seine Annahme oder Ablehnung von der Antwort des jüdischen Volkes abhing. Von der Freiheit des Menschen und den Machenschaften Satans kam die Entscheidung gegen Jesus.

Das Reich Gottes wäre voll aufgeblüht, wenn das Volk positiv geantwortet hätte. Die Entscheidung gegen Jesus sollte daher „der zweite Sündenfall“ genannt werden, schreibt Guardini. Wenn die Menschen Jesus anerkannt hätte, hätte ihr Ja zu Gott die Sünde Adams wettgemacht. Da sie ihn aber ablehnten, wurde die gefallene Situation des Menschen bestätigt.37

In jüngerer Zeit bejahte auch Hans Küng die Möglichkeit, daß Jesus sich von seinem Gott fallengelassen fühlte. Am Schluß sah sich Jesus verlassen, absolut allein gelassen. Selbst wenn wir nicht sicher wissen, wie sich Jesus am Kreuz fühlte, so war es doch offensichtlich, daß er die Ankunft des Gottesreiches verkündete - und daß es nicht kam. Jesus beanspruchte, der Zeuge Gottes zu sein - und wurde in Stich gelassen. Die Kreuzigung bedeutete für Jesus einen hilflosen, wunderlosen, sogar gottlosen Tod. Er, der die Nähe des Reiches Gottes angekündigt hatte, starb im Gefühl größter Göttverlassenheit.38

WER FÜHRTE IHN ANS KREUZ?

Wie wurde Jesus aufgenommen, als er das Kommen des Reiches Gottes verkündete? Um das vierte Evangelium zu zitieren: „Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf "(1.10 f). Obwohl das Licht der Welt auf Erden offenbar wurde, zog der Mensch die Dunkelheit vor. Gottes mühevolle Vorbereitung Israels auf die Ankunft des Messias wurde tragisch vereitelt.

Jesus erregte heftigen Widerstand und unversöhnlichen Haß. Wer verhinderte, daß Jesus als der Erwählte Gottes ausgerufen wurde? Natürlich war Satan der Hauptwidersacher des Messias. Als der Fürst dieser Welt war er entschlossen, seine falsche Herrschaft über die Menschheit zu behaupten. Daher fand Satan überall menschliche Instrumente, die sich willig oder unbewußt Gottes Willen widersetzten.

Lukas berichtet, wie die Mutter des Täufers Johannes Maria begegnete, die mit Jesus schwanger war. Elisabeth wurde vom Heiligen Geist erfüllt und pries Maria als die Mutter ihres Herrn (Lk 1,39-45). Warum lehrte dann seine Mutter Johannes den Täufer nicht, die höhere Stellung Jesu anzuerkennen? Offenbar diente Elisabeth der Maria nicht so, wie sie es hätte tun sollen, so daß ihr Sohn nicht richtig vorbereitet war, Jesus zu helfen.

Jedenfalls wirkte Johannes der Täufer ohne Absicht den Plänen Gottes zuwider. Statt sich mit Jesus zu vereinigen, setzte er seinen eigenen Weg fort. So verfehlte es der Täufer, der Vorbote und Verteidiger Jesu zu sein. Weil der Hauptvorläufer des Messias kein tragfähiges Fundament für Gottes Neues Zeitalter legte, mußte Jesus selbst den Attacken Satans durch die vierzig Tage Fasten und Beten in der Wildnis aushalten; so lehren es die „Göttlichen Prinzipien".

Als nächstes müssen wir erwähnen, daß Jesus von seiner Familie nicht unterstützt wurde. Viele Bibelwissenschaftler finden, daß weder Maria noch Jakobus, der Bruder Jesu, bis nach der Auferstehung Stützen der christlichen Bewegung wurden. Auf jeden Fall enthält das Neue Testament zumindest einen klaren Beweis und mehrere Hinweise, dass Jesu Familie von seiner messianischen Berufung nicht überzeugt war. Das älteste Evangelium berichtet ein Ereignis, das sicherlich authentisch ist. Als sich Jesu Ruhm als Glaubensheiler verbreitete, kamen Schriftgelehrte von Jerusalem, um das Phänomen zu erforschen. Sie verkündeten, Jesu Dämonenaustreibungen würden beweisen, daß er seine übernatürliche Kraft vom Fürsten der Dämonen her beziehe. Von diesem Verdammungsurteil verwirrt, gelangten Maria und die Brüder Jesu zu der Überzeugung, er habe seinen Verstand verloren. Von diesem ihrem Mangel an Vertrauen aufgebracht, weigerte sich Jesus, seine Familie zu sehen und erklärte, daß die, die ihm nachfolgten, seine wahren Brüder, Schwestern und Mutter seien (Mk 3,20-35).

Außer dieser Passage gibt es noch mehrere Andeutungen, daß Jesus mit dem Unglauben, Skeptizismus und Widerstand seiner engsten Verwandten konfrontiert wurde. Die spezifisch lukanische Kindheitsgeschichte über den Jungen im Tempel gibt zu verstehen, daß Maria und Josef die religiöse Berufung Jesu nicht verstanden. „Wußtet ihr nicht, daß ich im Hause meines Vaters sein muß?“, ruft der junge Jesus aus, als die ängstlichen Erwachsenen ihn im Tempel finden. Lukas bemerkt, daß die Eltern die Haltung ihres Sohnes nicht verstehen konnten (Lk 2,49). Vermutlich herrschte auch in Jesu Elternhaus große Disharmonie. Obgleich Josef durch einen Traum erfahren hatte, daß das Kind Marias ein Geschenk des Heiligen Geistes war, muß er sich oft gewundert haben, wie so etwas möglich war. Infolgedessen mag er sie gequält und ihr Kind übel behandelt haben. Einige Exegeten vertreten die Ansicht, wenn das Neue Testament Jesus gelegentlich als „Sohn der Maria“ bezeichnet, so war das die gewöhnliche, abfällige Art zu sagen, daß er ein uneheliches Kind war. Weiter sagt Jesus in Kana: „Was habe ich mit dir zu tun, Frau!“, als ob er seiner Mutter fremd geworden wäre (Joh 2,4). Ob das vierte Evangelium irgendwelche historischen Fundamente hat, bleibt eine der heiß umstrittenen Fragen der neutestamentlichen Bibelkritik. Da das sensationelle Wunder von Kana keine verstärkende Unterstützung in den früheren Evangelien findet, zweifeln viele Exegeten seine Geschichtlichkeit an. Doch die herabsetzende Bemerkung über Maria mag eine tatsächliche Basis haben, einfach weil solch eine Haltung niemals von der späteren christlichen Gemeinschaft erfunden worden wäre, wo doch die vorherrschende Tendenz war. Maria zu immer größeren Höhen emporheben. In jedem Fall ist anzunehmen, daß Jesus von seiner Familie abgelehnt wurde.

Weder Johannes der Täufer noch die Familie Jesu anerkannten die messianische Autorität Jesu. Darüber hinaus hatte er es mit zahlreichen religiösen Kritikern zu tun. Aus verschiedenen Gründen lief die Jesus-Bewegung gegen den Strom der religiösen Haltung aller bekannten jüdischen Gruppierungen im Palästina des ersten Jahrhunderts. Wofür Jesus eintrat, war für die Erwartungen so unterschiedlicher Gruppen wie die der Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Zeloten, Herodianer und Hellenisten fremd. Einige waren mit seiner apokalyptischen Botschaft nicht einverstanden. Einige widersetzten sich seinem Lebensstil. Einige waren durch seine sozialen und politischen Haltungen verwirrt, während andere an der von ihm beanspruchten Autorität Anstoß nahmen. Aus diesen Gründen ist Jesus als Opfer der religiösen Engstirnigkeit und des kirchlichem Ultra-Konservatismus dargestellt worden.

Schließlich gab es unter seinen Gegnern solche, die Jesus wegen der gespannten politischen Situation mißtrauisch gegenüberstanden. Herodes Antipas hat Jesus möglicherweise wegen dessen Verbindung zu Johannes dem Täufer verdächtigt, den der Tetrach gefangengenommen und enthauptet hatte. Jesus warnte seine Jünger vor dem „Sauerteig des Herodes“ (Mk 8,15) und nannte diesen Herrscher „diesen Fuchs" (Lk 13,32). Dann gab es die römische Besatzungsmacht. Da es in Palästina gärte, belauerten Pilatus und seine sadduzäischen Kollaborateure jeden Propheten, der das Feuer der Revolte schüren könnte.

Man beachte, daß wir die Juden nicht insgesamt als Feinde Jesu bezeichnet haben. Es gibt viele Stellen im Neuen Testament, die „die Juden“ für die Kreuzigung Jesu verantwortlich zu machen scheinen.39 In den letzten Jahren haben die Kirchen versucht, den Antisemitismus auszumerzen. Es hieße die Passionsgeschichten fehl zu deuten, wenn man heutige Juden für das Verbrechen des „Gottesmordes" verantwortlich macht oder die Kreuzigung dem Unglauben der Juden als Gesamtheit zuschreibt. Nach den synoptischen Überlieferungen, die am meisten verläßlich erscheinen, war die Verschwörung gegen Jesus von einigen führenden Pharisäern angezettelt worden, die ihn wegen seiner Mißachtung der Thora ablehnten. Er wurde vom Hohenpriester Kaiphas wegen der Anklage der Gotteslästerung verhört. Der Hohe Rat befand Jesus in einer vermutlich rechtswidrigen Nachtsitzung für schuldig.40 und lieferte ihn an Pilatus aus, der ihn als einen politisch gefährlichen Messiasprätendenten hinrichten ließ.

Statt die Juden für das Leiden Jesu verantwortlich machen zu wollen, sollten die Christen anerkennen, daß alle Menschen der Sünden schuldig sind, die zum Kreuz führten. Wenn es in einem amerikanischen Spiritual heißt: „Warst du da, als sie meinen Herrn kreuzigten?", ist die Antwort natürlich, daß wir alle da waren. Wie oft haben wir Christen dem Petrus oder dem Judas, dem Pilatus oder den Pharisäern geähnelt! Wie oft waren wir selbst kleingläubige Menschen, blind für Gottes Vorsehung und haben sie geleugnet und verraten!

Daher rühmen sich die Vereinigungsmitglieder nicht des Kreuzes, sondern betonen vielmehr, daß das Kreuz für Jesus nur Gefühle der extremen Bitterkeit und des Schmerzes auslöste. Es war kein Anlaß zum Stolz, sondern etwas schmerzlich Beschämendes.

Für Gott war Jesu Kreuzigung ebenso herzzerbrechend wie der Sündenfall Adams und Evas. Er mußte das Gefühl haben, als ob Er Sein Angesicht vom Menschen abwenden wollte, um Ihn nach so vielen vergeblichen Rettungsversuchen seinem Schicksal zu überlassen. Wie schmerzgeschlagen, wie bitter muß sich Gott gegenüber dem Menschen gefühlt haben, als Er Seinen Sohn ans Kreuz genagelt sah!

Das Vereinigungsprinzip widerspricht diametral der fundamentalistischen Sicht, daß Jesu einzige Mission darin bestand, die Sünden der Menschheit zu sühnen, indem er am Kreuz starb. Wenn Gott Seinen einzig eingeborenen Sohn gesandt hätte, daß er anstelle des sündigen Menschen bestraft und getötet würde, wäre er keineswegs der väterliche Gott, an den Jesus glaubte. Noch schlimmer ist die Ansicht solcher Theologen, die behaupten, daß Adams Fall vorherbestimmt war, damit Christus kommen konnte, um die Menschen durch sein stellvertretendes Leiden zu erlösen.

DER AUFERSTANDENE JESUS

Die Botschaft und Sendung Jesu hatte trotz der Kreuzigung die Entstehung der christlichen Kirche zur Folge. Wie konnte dies geschehen, wenn Jesus hoffnungslos am Kreuz scheiterte? So fragt Küng.41

Das geschichtliche Rätsel der Ursprünge des Christentums zwingt uns, auf die neutestamentlichen Ansprüche bezüglich der Auferstehung Jesu von den Toten einzugehen. Da einige seiner Zeitgenossen behaupteten, den auferstandenen Jesus gesehen zu haben, betrat eine neue Religion die Bühne. Der verurteilte häretische Rabbi und hingerichtete politische Rebell wurde fortan weit und breit als Israels Messias begrüßt. Was bedeutet es aber, daß Jesus auferstanden sei?

Christliche Laien und die meisten Kleriker bestehen darauf, daß die Auferstehung das Herz des neutestamentlichen Glaubens sei.42 Der heilige Paulus sagt, wenn Jesus nicht von den Toten auferstanden wäre, sei unser Glaube nichtig (1 Kor 15,17). Warum ist der Osterglaube so entscheidend? Verschiedene Gründe werden vorgebracht:

l. Die Auferstehung Jesu bietet den unwiderlegbaren Beweis, daß der Mensch eine unsterbliche Seele hat. Die Christen glauben wegen der Geschehnisse des ersten Ostern ans ewige Leben.43

2. Die Auferstehung Jesus war ein so erstaunliches Wunder, daß sie die Gottheit Jesu erweist. Da ihn das Grab nicht halten konnte, muß er eine übernatürliche Gestalt sein: Der Sohn Gottes, der Logos oder die zweite Person der Dreifaltigkeit. Als der ungläubige Thomas den Körper des Auferstandenen sah, rief er aus: „Mein Herr und mein Gott" (Joh 20,28).

3. Da Jesus den Tod, den größten Feind der Menschheit, besiegt hat, bietet die Kirche eine Religion an, die anderen Religionen überlegen ist. Während Nichtchristen einen toten Buddha, Moses, Mohammed oder Konfuzius verehren, beten die Christen einen für immer lebenden Jesus Christus an. Dies scheint die Höherwertigkeit des Christentums zu zeigen.

4. Nichts anderes als die Auferstehung hätte den Glauben der Jünger an Jesus nach dem Schock der Kreuzigung wiederherstellen können. Als Jesus gefangengenommen und hingerichtet wurde, erschien seinen Anhängern das Kommen des Reiches Gottes aussichtslos.
Daher war es für diese desillusionierten, verängstigten Männer und Frauen notwendig, Jesu Sieg über den Tod für sie zu erkennen, um Apostel der neuen Religion zu werden. Emil Brunner schreibt, daß die Erscheinungen des Auferstandenen die erschütterten und zerstreuten Jünger nach der Katastrophe vom Kalvarienberg zusammenbrachten und das eigentliche Fundament der christlichen Kirche bildeten.44

5. Erst aufgrund der Auferstehung konnten die Jünger glauben, daß Jesus wirklich der Messias war; nur so konnten sie sein Messiassein trotz Kalvarienberg verkünden. Wegen der Auferstehungserscheinungen konnten jüdische Christen an die paradoxe Tatsache eines gekreuzigten Messias glauben.

6. In neuester Zeit haben Theologen die Auferstehung im Licht der apokalyptischen Erwartungen des ersten Jahrhunderts interpretiert. Die Jünger waren überzeugt, daß die Auferstehung Jesu ein sicherer Beweis für die allgemeine Auferstehung von den Toten bei der Ankunft des Reiches Gottes in Herrlichkeit sei.

Anhand dieser sechs Deutungen soll die zentrale Stellung des Osterglaubens aufgezeigt werden. Wir wollen die Auferstehung Jesu nun im einzelnen betrachten: denn in unseren Tagen wird die Lehre von der leiblichen Auferstehung und Himmelfahrt Jesu immer mehr in Frage gestellt.

Wir haben nun die Aufgabe, die Osterberichte der Evangelien sorgfältig zu prüfen. Unglücklicherweise enthüllen die biblischen Quellen „unüberwindliche Diskrepanzen und Unstimmigkeiten“, um Hans Küngs Worte zu benutzen.45 Die biblischen Erzählungen stehen so sehr in Widerspruch zueinander, daß es unmöglich ist, sie zu harmonisieren. Die Evangelien stimmen nicht über die am Auferstehungsgeschehen beteiligten Menschen überein. Sie widersprechen einander über die ganze Abfolge von Jesu Erscheinungen. Bei Markus sehen die Frauen einen jungen Mann in weißem Gewand am leeren Grab. Bei Matthäus wird dieser Jüngling zu einem Engel. Doch bei Lukas gibt es zwei Männer in blendend-weißer Erscheinung am Grab. Bei Matthäus erscheint der auferstandene Jesus seinen Jungem in Galiläa, doch bei Lukas wird er nur im Gebiet von Jerusalem gesehen. Darüber hinaus weicht der paulinische Bericht über die Erscheinung bedeutend von denen in den vier Evangelien ab.

Pannenberg sieht die Auferstehungserzählungen im Lichte der urchristlichen apokalyptischen Erwartungen:46 l. Für die urchristliche Gemeinde besagt die Auferstehung Jesu, daß die Endzeit angebrochen ist, weil das messianische Reich mit einer allgemeinen Auferstehung von den Toten beginnen soll. Jesus wurde als Erstlingsfrucht all derer auferweckt, die entschlafen sind (l Kor 15,20). 2. In der Auferweckung Jesu von den Toten bestätigte Gott die Botschaft Jesu und rechtfertigte seine irdische Sendung. Gott bediente sich dieses dramatischen Mittels, um Jesus Seinen Stempel der Beglaubigung aufzudrücken und Jesu Gegner zu verdammen. 3. Wegen der Auferstehung wurde es möglich, Jesus mit dem kommenden apokalyptischen Menschensohn zu identifizieren. 4. Durch die Auferstehung Jesu wurde Gott endgültig durch Jesu Lehre und Person offenbart. Die Herrlichkeit Gottes manifestierte sich im Leben des irdischen Jesus. 5. Aufgrund der Auferstehung sollten Heiden wie Juden im anbrechenden Reich Gottes willkommen geheißen werden.

Mit der Verzögerung der Wiederkunft erlebte die ursprüngliche apokalyptische Bedeutung der Auferstehung Jesu eine beträchtliche Revision. Dies wird bei den Synoptikern ganz deutlich. Jeder der synoptischen Autoren paßt die Auferstehungserscheinungen in seine spezifische Theologie ein.47

Markus (ohne den Anhang nach 16,6) erzählt von den Frauen am Kreuz, den Frauen beim Begräbnis und den Frauen am offenen Grab. Dieses Evangelium enthält keine Erscheinung des auferstandenen Jesus. Die Frauen finden einen jungen Mann am Grab, der ihnen sagt, daß Jesus nicht länger da, sondern mit seinen Jungem in Galiläa sei. Für Markus steht noch vorrangig die apokalyptische Hoffnung am Horizont. Es gibt keinen Grund, etwas anderes zu betonen als den sicheren Glauben an das Kommen des Menschensohnes, eine Botschaft, die zu den Heiden (symbolisiert durch Galiläa) getragen werden soll.48

Während Markus die Auferstehung nur als ein Präludium zur Wiederkunft ansah, läßt Matthäus den auferstandenen Jesus seine Jünger damit beauftragen, die christliche Kirche zu gründen. Jetzt, da Jesus auferstanden ist, besteht ihre Aufgabe darin, aus allen Nationen Jünger zu machen. Gleich wann die Parousie kommen mag, die christliche Aufgabe besteht darin, Kirchen auf der ganzen Welt zu gründen. Der auferstandene Jesus ist kontinuierlich in der Kirche anwesend. Auch Lukas lenkt, mit wenig Interesse an der apokalyptischen Hoffnung, seinen Blick auf das beginnende Zeugnis der Kirche. Wie Jesus vom Geist Gottes lebte, empfangen seine Jünger den Geist, der ihnen Kraft und Inspiration für ihre Mission gibt. Der auferstandene Jesus begegnet den Christen beim eucharistischen Brotbrechen, hilft ihnen, die alttestamentlichen Schriften zu verstehen und tauft sie mit dem Heiligen Geist.

Doch was auch immer die ersten Jünger und die Autoren der Evangelien geglaubt haben mögen: Stand Jesus wirklich physisch von den Toten auf? Wenn ja, wie fand die Auferstehung statt? Unsere älteste Quelle, eine Überlieferung, die von Paulus im Jahre 56-57 zitiert wird, spricht nur von Visionen des auferstandenen Jesus. Paulus vergleicht die früheren Erscheinungen des auferstandenen Jesus mit seinen eigenen Erscheinungen auf der Straße nach Damaskus. Bezeichnenderweise nimmt er keinen Bezug auf die verschiedenen Geschichten vom leeren Grab. Von daher ist es wahrscheinlich, daß die Jünger eher spirituelle Visionen empfingen, als daß sie den physisch auferstandenen Jesus sahen.

Das soll nicht andeuten, daß die Erscheinungen des auferstandenen Jesus nur subjektive Halluzinationen waren. Wir wissen heute genug über geistige Phänomene, um anzuerkennen, daß glaubwürdige Berichte über spirituelle Erscheinungen von Toten recht zahlreich sind.49 Warum nehmen dann so wenige Theologen Bezug auf die Parapsychologie, um die Auferstehung Jesu zu erläutern? Erstens, weil sie keine parapsychologischen Erfahrungen aus erster Quelle oder nicht genügend Information über spirituelle Phänomene haben mögen. Zweitens: Nicht an die physische Auferstehung Jesu zu glauben, könnte so wirken, als werde Jesus seiner Einzigartigkeit beraubt. Konservative Christen betonen lieber, daß die Auferstehung Jesu ein übernatürliches Ereignis war, das Jesu Gottheit beweist.

DIE SICHT DER VEREINIGUNGSTHEOLOGIE

Wie versteht die Vereinigungskirche die Auferstehung Jesu? Erstens: Die „Göttlichen Prinzipien“ bejahen die Realität der Auferstehung aus drei Gründen. Geschichtlich war für die Jünger die Auferstehung notwendig, um über die demoralisierende Erfahrung der Kreuzigung hinwegzukommen. Wie der englische Bibeltheologe Alan Richardson sagte, endete die Sendung Jesu anscheinend in totalem Scheitern und in Katastrophe. Deshalb flohen alle Jünger zurück nach Galiläa (Mk 14,50). Als aber diese entmutigten Anhänger die Überzeugung von der Auferstehung Jesu gewannen. lebte ihr Glaube plötzlich wieder auf. Sie kamen wieder zusammen und feierten fortan den Tod Jesu als einen Anlaß der Freude und Danksagung.50

Theologisch ist die Auferstehung ein Zeugnis der bipolaren Natur des Menschen. Jede Person besteht aus sterblichem Fleisch und unsterblicher Seele. Die Feinde Jesu konnten durch die Kreuzigung seinen Geist nicht zerstören. Auch waren die Auferstehungserscheinungen nicht einfach von der frühen Kirche erfunden, um ein leichtgläubiges Volk zur Annahme eines neuen Glaubens zu bewegen. Jesus hat wirklich den Tod besiegt,

Die Auferstehung war von der Vorsehung her gesehen höchst notwendig. Da Jesu Sendung für Gottes Vorsehung so entscheidend war, hatte Er den verheerenden Rückschlag Seines Planes durch Jesu vorzeitigen Tod zu überwinden. Wie konnte Gott die verstreute und in Mißkredit gebrachte messianische Bewegung wiederbeleben? Das Wiedererscheinen Jesu Christi war Gottes Weg, die Jünger neu zu inspirieren und ihre Begeisterung neu zu entfachen. So wurde die ganze christliche Gemeinschaft darauf vorbereitet, die Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten zu empfangen. Aufgrund der Auferstehung konnten jüdische Christen ihren Landsleuten verkündigen: „Diesen Jesus hat Gott auferweckt, davon sind wir alle Zeugen... Mit Gewißheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (Apg 2,32.36).

Als nächstes müssen wir die Deutung der Art der Auferstehung in den „Göttlichen Prinzipien“ untersuchen. Wie die meisten liberalen Protestanten glauben die Mitglieder der Vereinigungskirche, daß die Auferstehung Jesu geistig und nicht körperlich war. Eine Auferstehung des Fleisches widerspricht unserer modernen wissenschaftlichen Weltsicht. Bultmann und andere würden darauf bestehen, daß wir die alten Lehren wie fleischliche Auferstehung und körperliche Auffahrt in den Himmel entmythologisieren müssen, wenn wir das Christentum glaubhaft machen wollen. Ähnlich betont Brunner zwar die Auferstehung des Körpers. Jedoch nicht die des Fleisches.51

Paulus, möglicherweise das einzige hochgebildete Mitglied des Apostelkollegiums, weist den Glauben an Jesu körperliche Auferstehung zurück. In seinen frühen Briefen wird die christliche Hoffnung weitgehend in jüdischen apokalyptischen Begriffen interpretiert, die den Glauben an eine Auferstehung des Fleisches einschließen (1 Thess 4,5). Später hat Paulus seine Auffassung modifiziert: „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben" (l Kor 15,50). Die Erfahrung des Paulus vom auferstandenen Jesus war eine Begegnung mit dem verherrlichten Christus, eine geistige Realltiät.

Auch in den Evangelien wird es klar, daß der Auferstehungsleib Jesu von seinem irdischen Leib verschieden war. Als Jesus plötzlich unter den Jüngern in ihrem Versammlungsraum erschien, glaubten sie, es sei ein Geist (Lk 24,37). Als die Jünger den auferstandenen Jesus auf dem Weg nach Emmaus trafen, erkannten sie ihn nicht, bis er mit ihnen aß; dann verschwand er, sobald sich ihre Augen öffneten (Lk 24,15-31). Diese beiden Ereignisse zeigen, daß der Körper des Auferstandenen recht verschieden von seinem irdischen war.

Doch alle vier Evangelien enthalten Erzählungen vom leeren Grab. Diejenigen, die die körperliche Auferstehung betonen, stützen sich stark auf die Tradition des leeren Grabes. Viele Neutestamentier betrachten das leere Grab als eine Legende. Guignebert sagt, die neutestamentlichen Quellen seien „ein Mosaik, das künstlich aus widersprüchlichen Bruchstücken zusammengesetzt ist.“ 52

Vor allem bieten die Evangelien Widersprüchliches über das Begräbnis Jesu und die Entdeckung des offenen Grabes. Matthäus, Lukas, Apostelgeschichte und Johannes fügen Einzelheiten zu Markus' Originalbericht hinzu, doch sie widersprechen einander. Vier Beispiele mögen genügen: Wie viele Frauen gehen zum Grabe Jesu und finden es lehr? Nach Johannes eine (20,1). Nach Matthäus zwei (28,1). Nach Lukas drei (24,10). Wer salbte Jesu Leib ein? Josef und Nikodemus, sagt das vierte Evangelium (19,38-40). Doch nach der synoptischen Überlieferung gingen die Frauen mit dieser Absicht zum Grabe (Lk 24.1). Wurde das Grab bewacht? Matthäus berichtet, daß die Hohenpriester und Ältesten Soldaten am Grab aufstellten. Doch bei Markus und Lukas fehlt dieses wichtige Detail. Was geschah, als die Frauen zum Grabe kamen? Allein Matthäus erzählt. daß sich ein großes Erdbeben ereignete (28, l -10). Wenn dieses aufregende Ereignis tatsächlich stattfand, warum versäumten die anderen Evangelisten, davon zu berichten? Von diesen Diskrepanzen her wird es offensichtlich, daß die Originalgeschichte des Markus von den anderen Evangelisten stark ausgeschmückt worden ist.

Glücklicherweise finden wir eine wichtige Überlieferung über den auferstandenen Jesus in den Briefes des Paulus, die das früheste Zeugnis darstellen (l Kor 15,3ff). Paulus bringt eine Liste von Auferstehungserscheinungen, die er vom Apostelkollegium erhalten hatte und bemerkt, daß jede dieser Erscheinungen wie seine eigene mystische Erscheinung auf der Straße nach Damaskus war. Demzufolge waren die ersten Auferstehungserscheinungen solche des geistigen Jesus. Wichtiger ist, daß Paulus nirgends auf das leere Grab Bezug nimmt. Legt dies nicht nahe, daß zu seiner Zeit die Christen nicht glaubten, daß das Grab leer gefunden wurde? Guignebert und andere folgern daher, daß die Graberzählungen Legenden seien, die von christlichen Apologeten hinzugefügt wurden, um die Realität der Auferstehung Jesu zu beweisen. Hamack vertrat die Ansicht, daß die „Entdeckung“ des offenen Grabes die Überlieferung komplizierte und verwirrte, und daß Paulus nichts von dieser Geschichte wußte.53

Guignebert nimmt an, daß Jesu Körper von seinen Henkern vom Kreuz genommen und ihm eine Art von Begräbnis zuteil wurde. Höchstwahrscheinlich wurde der Körper in eine abseits gelegene Grube geworfen, die für hingerichtete Verbrecher bestimmt war. Die Örtlichkeit des Heiligen Grabes wurde erst zur Zeit Konstantins ermittelt, der sie im Jahre 326 „zur Verehrung freigab“.54

Bezüglich des leeren Grabes sind eine Reihe von Erklärungen angeboten worden. Zwei alte jüdische Ansichten haben überlebt. Das Grab war leer, weil die Jünger heimlich den Körper wegnahmen, bevor die Frauen ankamen. Oder der Gärtner entfernte ihn, weil er fürchtete, das Grab eines umstrittenen Propheten würde so viele Besucher anziehen, daß sie sein Gemüse zertrampeln würden. Eine andere Möglichkeit ist, daß Josef von Arimatäa nachträglich bedauerte, die Leiche eines verurteilten Kriminellen in seinem Familiengrab zu haben und daher den Körper ohne Verständigung der Jünger entfernte. Möglicherweise wurde das Grab auch von Grabräubern, die in damaliger Zeit zahlreich waren, aufgebrochen und geplündert.

Vielleicht aber wurde Jesus auch vor seinem Tod vom Kreuz abgenommen. Diese seltsame Idee nahm drei Formen an. Doketische Christen glaubten, daß Jesus nicht leiden und sterben konnte. Daher schien er nur gekreuzigt worden zu sein, oder jemand nahm seinen Platz am Kreuz ein, zum Beispiel Simon von Cyrene. Diese Sicht ist alt und verbreitete sich nach Arabien, wo Mohammed sie geglaubt zu haben scheint.55 Eine zweite Ansicht: Jesus war ein Essener, dem eine Droge gegeben wurde, die ihn instand setzte, den Tod vorzuspiegeln. Seine Mitessener nahmen ihn vom Kreuz und versteckten ihn in einem ihrer Klöster, wo er heimlich lebte, bis er viele Jahre später eines natürlichen Todes starb. Die dritte Ansicht, die auch von manchen Muslimen geteilt wird: Jesus starb nicht am Kreuz, sondern gewann allmählich die Gesundheit wieder und reiste dann nach Indien, wo er bis zu seinem Tod in hohem Alter als Prophet verehrt wurde. Selbst heute noch können Indische Muslime den Kaschmir-Schrein zeigen, in welchem sich noch der Körper des heiligmäßigen Jesus befindet.56 Keine dieser Ansichten - so widersprüchlich sie sind - unterstützt eine nicht-geistige Auferstehung Jesu.

Nach der Vereinigungstheologie sahen die Jünger keinen gewöhnlichen Geist. Was sie erlebten, war der Messsias, der im Geiste auferstanden war. Daher meinen die Mitglieder der Vereinigungskirche, daß Jesu Sendung wegen dieser Auferstehung nicht in einem totalen Scheitern endete. Sicherlich wurde Jesu physischer Leib ganz zermalmt. Doch nach seinem Erwachen in der geistigen Welt war Jesu erste Sorge, wieder den Glauben der Jünger zu entfachen; und so war es ihm wichtig, sich seinen Jungem in einer sichtbaren Weise zu manifestieren. Daher schreibt Lukas, aß Jesus vierzig Tage lang den Jüngern (geistig) nahe blieb und so mit ihnen ein Vierzig-Tage-Fundament legte. 57

Zum 6. Kapitel   Christologie

Anmerkungen
1 CS. Lewis. Mere Christianity (1960).8.
2 Lewis. a.a.O. 54-56.
3 Lewis.a.a.0. 57.
4 Lewis, a.a.O. 58.
5 0. Cullmann, historische Studien darüber in: Christologie des Neuen Testamentes (engl. Ausg. 1959) und F. Hahm. Christologische Hoheitstitel (eng. Ausg. 1969).
6 F.J. Sheen, Life of Christ (1958). 1-4.
7 G.E. Ladd, A Theology of the New Testament (1974) 182-192.
8 F. Schleiermacher, Das Leben Jesu (engl.Ausg. 1975),XI.
9 H.D.A. Major. Mission and Message of Jesus (1938), 232-233.
10 G. Fohrer, Einführung ins Alte Testament (engl.Ausg. 1968),378-381; M. Buber, Der Glaube der Propheten (engl.Ausg. 1960),217-235; H.M. Orlinsky. interpreting the Prophetic Tradition (1969).227-273.
11 A. M. Perry, „Growth of the Gospels". The Interpreters Bible (1951). Vol. 7. 60-74.
12 Vgl. R. Bultmann. Das Urchristentum und seine Zeit (eng.Ausg. 1967); N. Perrin. The New Testament. An Introduction (1974),39-61.
13 E.V.McKnight, What is Form Criticism? (1969).
14 M. Werner, Formation of Christian Dogma (1957).
15 Führende Redaktionsgeschichtler sind: R.H. Lightfoot, W. Marxen, H. Conzelmann. G. Bornkamm und N. Perrin.
16 Harvey K. McArthur, In Search of the Historical Jesus (1969).
17 M. Enslin. Christian Beginnings (l 956), 149-153 und J. Jeremias. Neutestamentliche Theologie (engl.Ausg. 1971 ),43-49.
18 H. Conzelmann. Jesus (englAusg.1973).20-25.
19 G. Bornkamm. Jesus von Nazareth (engl.Ausg. 1960), 154-158.
20 G. O’Collins, The Calvary Christ (1977), 30,32,37,39.
21 H. Küng. Signposts for the Future (1978),64-87.
22 R.E. Brown, The Gospel According to John (1970), Vol. 2. 922-931.
23 J. Klausner. The Messianic Ideal in Israel (1955). 392.
24 J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie (engl.Ausg. 1971), 99f.
25 Jeremias, a.a.O. 177.
26 C. Guignebert, Jesus (1956),226.
27 E.J. Goodspeed, A Life of Jesus (1950), 130-134.
28 H. Küng. Christsein (eng.Ausg. 1976),319.
29 Goguel. Life of Jesus (1954).420.
30 J. Sobrino, Christology at the Crossroads (1978).
31 Sobrino, a.a.O. 92.
32 Sobrino, a.a.O. 94.
33 Vgl. Bultmanns Essay in: H.K. McArthur, In Search of the Historical Jesus (1969).
34 W. Kasper, Jesus der Christus (engl.Ausg. 1976). 118f.
35 R. Bultmann, Jesus Christus und die Mythologie (engl.Ausg. 1958). 14.
36 Jeremias, Neutestamentliche Theologie (engl.Ausg.).3-8.
37 R. Guardini. Der Herr (engl.Ausg.1954). 208-215.
38 H. Küng. a.a.O. 341f.
39 C Klein, Anti-Judaism in Christian Theology (1978) und G. Vermes. Jesus the Jew (l 974).
40 Mk 14,53 - 15, l; Lk 22,54-66; Mt 26,57 - 27, l; Job 18.12-28.
41 Küng. a.a.O. 344f.
42 Jürgen Moltmann. Theologie der Hoffnung (eng.Ausg. 1967). 165f.
43 Nonnann Pittenger behauptet, der Glaube an die Unsterblichkeit sei vor allem auf dem Sieg Christi über den Tod begründet: „The Approach to Christianity“ (1939). 121.
44 Emil Brunner. Dogmatik, Bd. 2 (engl.Ausg. 1952),366.
45 Küng. a.a.O. 347.
46 W. Pannenberg. Christologie (engl. Ausg.: Jesus. God and Man, 21977).66-72.
47 N. Perrin, The Resurrection According to Matthew, Mark and Luke (1977).
48 Die Juden nannten es seit der assyrischen Eroberung Israels das „Galiläa der Heiden", wegen des gemischten Blutes der Einwohner, und weil die Galiläer keine strengen Beobachter des Gesetzes waren.
49 M.C. Perry, The Resurrection of Man (1975), 18-39; Kirsopp Lake. The Historical Evidence for the Resurrection of Jesus Christ (1907).
50 A.Richardson. An Introduction to the theology of the New Testament (1958). 190.
51 E.Brunner, Dogmatik (engl.Ausg.), Bd.11,372.
52 C. Guingnebert. Jesus (1956).490-536.
53 A. Harnack, Neue Untersuchungen der apostolischen Geschichte (eng. 1911), 112. Auch Conzelmann, Grundriß einer Theologie des Neuen Testamentes (eng. 1969).67.
54 Eusebius, Life of Constantine, 3,26 und Sokrates, Ecclesiastical History, 1,17.
55 Vgl. G. Parrinder. Jesus in the Qur’an (l 977). 108-113.
56 Vgl. HA.R. Gibb und J.H. Kramers (Hrsg.). Shorter Encyclopedia of Islam (1953),24.
57 Die Göttlichen Prinzipien (1972) 179.